Horst Bosetzky

Kempinski erobert Berlin


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das hier deutsche Erde?«, fragte Raphael Kempinski, während sie, wenn die Chausseebäume einmal etwas lichter standen, in der Ferne schon den Kirchturm von Szczuny sahen.

      »Ja, das hier ist deutsche Erde, und ich fürchte ein wenig um unsere Freundschaft, wenn sich dein Berthold wirklich den polnischen Banden anschließt. Erst werden sie gegen Russland kämpfen, dann gegen die Preußen – bis sie endlich ihr Großpolen wiederhaben.«

      »Das ist nun mal so«, sagte Raphael Kempinski. »Nur schade, dass sie bei ihrer Siegesfeier Wodka trinken werden und keinen Wein. Man müsste sich rechtzeitig umstellen.«

      So stritten sie munter weiter, bis sie nach anderthalb Stunden Skalmierschütz erreichten. Es war ziemlich heiß, das Pferd musste unbedingt getränkt werden, und auch sie lechzten nach einem kühlen Trunk.

      Dennoch war Raphael Kempinski von dieser Rast nicht eben begeistert. »Was wir dadurch an Zeit verlieren! Ist Berthold erst einmal über die Grenze, dann kann ich ihn abschreiben.«

      »Hör auf zu jammern!«

      Raphael Kempinski besann sich. »Du hast recht: Ich habe ja noch immer Moritz, von den anderen Kindern ganz zu schweigen.«

      »Deinen Humor möchte ich haben.«

      Nach kurzer Suche fanden sie einen Gasthof, in dem ein Knecht bereitstand, um sich um das Pferd zu kümmern. Sie überließen es ihm und traten in die Gaststube, die niedrig war und dunkel dazu. So kam es, dass Raphael Kempinski den jungen Mann hinten in der Ecke erst entdeckte, als sie sich niedersetzen wollten.

      »Berthold!«, schrie er.

      »Vater! Was machst du denn hier?«

      »Ich will dich daran hindern, dich den Polen anzuschließen.«

      Der Sohn lachte. »Da kämest du zu spät, das hätte ich schon längst tun können. Ich wollte aber Witold nur bis zur Grenze begleiten und dort Abschied von ihm nehmen. Das habe ich auch – und nun bin ich wieder auf dem Rückweg nach Ostrowo.«

      Raphael Kempinski umarmte ihn.

      »Du solltest den Jungen was Vernünftiges machen lassen«, sagte Schlüsselfeld. »Seit er nicht mehr in die Schule gehen will, lungert er nur noch herum und kommt auf dumme Gedanken. Bei seinen guten Noten hätte er doch überall studieren können, jeder Professor wäre froh über ihn gewesen.«

      Berthold Kempinski starrte auf seine Fingernägel. »Ich weiß aber partout nicht, was ich machen möchte.«

      »Warum gehst du nicht nach Breslau zu deinem Bruder ins Geschäft? Breslau ist ein gutes Sprungbrett nach Berlin.« Schlüsselfeld wusste, dass er seinem Freund Raphael ab und an auf die Sprünge helfen musste, denn der hätte den Jungen nie aus eigenem Antrieb an die Kandare genommen, weil er meinte, alles müsse von innen heraus kommen und zwang man einem anderen seinen Willen auf, dann ging das immer schief.

      »Ich will nicht zu Moritz!« Fast hätte Berthold Kempinski mit dem Fuß auf den Boden gestampft.

      »Du gehst!«, beschied der Vater, der sich genötigt sah, angesichts des kritischen Freundes einmal Härte zu zeigen. »Auch wenn es nur für kurze Zeit ist, um einmal hineinzuschnuppern.«

      »Nein.«

      Schlüsselfeld wollte vermitteln. »Dann schick ihn in die Lehre, Raphael, ich habe da einen Vetter in Kreuzburg, bei dem kann er den Beruf des Kaufmanns erlernen, und dann erst tritt er bei Moritz ins Geschäft ein.«

      Leopold Leichholz ließ es sich nicht nehmen, Berthold Kempinski sein Breslau zu zeigen, und er wurde richtig poetisch dabei. »Breslau ist die größte und kostbarste Perle am schimmernden Bande der Oder«, rief er aus, als sie über die Universitätsbrücke schritten, die Insel Bürgerwerder, die geformt war wie ein menschlicher Magen, mit ihren Kasernen zur Linken und der Vorderbleiche zur Rechten. »Wie eine Geliebte umschlingt sie der Strom. Breslau, alte Patrizierstadt und Zentrum von Wissenschaft und humanistischer Bildung. Ich sage nur Joseph von Eichendorff und Gustav Freytag und allein die Philosophen: Christian von Wolff, ein Vorläufer Kants, Christian Garve, ein Kämpfer gegen den Kant’schen Kritizismus, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher … Darum blieb mir nichts anderes übrig, als Philosophie zu studieren.«

      Berthold Kempinski schaute ihn an. »Die Wahrheit findest du allerdings nicht im Hörsaal, sondern nur bei uns.«

      »Wie das?«

      »Nun: Im Wein liegt Wahrheit, und der Wein ist ein Spiegel der Menschen.«

      Leichholz lachte. »Ja, die schläs’sche G’mittlichkeit. Mein Vater hat jeden Sonntag im Dorfkretscham gesessen und seinen Grünberger getrunken, so sauer der auch gewesen sein mag. Und wie hat unser großer schlesischer Dichter gereimt …«

      »Der Angelus Silesius?«

      »Nein, der August Kopisch.« Er musste einen Augenblick nachdenken, bis er darauf kam. »Auf Schlesiens Bergen, da wächst ein Wein,/der braucht nicht Hitze, nicht Sonnenschein./Ob’s Jahr schlecht, ob’s Jahr gut,/da trinkt man fröhlich der Trauben Blut.«

      Berthold Kempinski erinnerte sich wieder. »Der Dichter trifft nun den Teufel und wettet mit ihm, dass er ihn unter den Tisch trinken kann.«

      »Ja, und schließlich lallt der Teufel: Hör’, Kamerad,/beim Fegefeuer! Jetzt hab ich’s satt/Ich trank wohl vor hundert Jahren in Prag/mit den Studenten Nacht und Tag,/doch mehr zu trinken solch sauern Wein,/müsst’ ich ein geborener Schlesier sein!«

      »Was wir nicht sind«, sagte Berthold Kempinski, »sondern geborene Posener, und darum hat M. Kempinski auch das Recht, seine Weine aus Ungarn zu beziehen.«

      Leopold Leichholz schlug ihm auf die Schulter. »Es sei euch gedankt!«

      Sie durchschritten die engen Straßen der Oder- und der Sandvorstadt und kamen über den Gneisenauplatz zur Kreuzkirche, deren spitzer Turm Leichholz spotten ließ, hier habe sich der Baumeister in der Religion geirrt und aus Versehen ein Minarett errichtet. Nicht weit entfernt lag der Dom mit seinen beiden Renaissance-Türmen und der dreischiffigen Basilika, an die mehrere Kapellen angebaut waren.

      »Willst du in den Chor rein?«, fragte Leichholz.

      »Nein, dazu singe ich zu schlecht.«

      »Mensch, ins Kirchenschiff, den Hohen Chor zu St. Johannes.«

      Berthold zeigte sich vom Breslauer Dom durchaus beeindruckt, obwohl er nicht so recht verstand, was der Freund damit meinte, wenn er sagte, der Fürstbischof Friedrich von Hessen habe im 17. Jahrhundert die gotische Ausstattung systematisch barockisieren lassen. Ein Gedanke ließ ihn nicht mehr los, seit er neulich geträumt hatte, Habel in Berlin hätte ihn adoptiert. »Was könnte man hier für ein herrliches Restaurant eröffnen!«, rief er.

      Leichholz lachte. »Keine schlechte Idee. Der Wein ist ja schon hier – der Messwein fürs Abendmahl. Aber ob sie ihn dir als Juden so ohne weiteres überlassen würden?«

      Berthold Kempinski winkte ab. »Du weißt, ich hab mich nie so recht als Jude gefühlt.«

      »Dessen ungeachtet bist du einer. Und wenn es mal Ausschreitungen gegen Juden gibt …«

      »In Preußen gibt es keine«, beschied ihn Berthold Kempinski. »Und wenn ich einmal ein Restaurant aufmache, dann nenne ich es bestimmt nicht Beth ha-Mikdasch

      »Immerhin kennst du den Tempel in Jerusalem.«

      »Manchmal kann es ja auch ganz nützlich sein, einen Glauben zu haben«, sagte Berthold Kempinski und dachte an seinen Freund Witold, der nun schon die ersten Gefechte hinter sich hatte. »An irgendetwas muss sich der Mensch schließlich festhalten. Und man lernt am Schabbat Leute kennen, die einem später etwas abkaufen.«

      »Sehr gläubig bist du wirklich nicht.«

      »Wenn alle Völker auf der Welt einen Gott hätten und anbeten würden, wäre ich ja noch zu überzeugen, dass es ihn wirklich gibt, aber so … Alle haben einen anderen und behaupten, er wäre der einzig wahre. Da kann doch