Horst Bosetzky

Kempinski erobert Berlin


Скачать книгу

rief das ganze Volk, »das gestern Büßer und Rächer war und morgen Held und Riese sein wird«, zum Widerstand auf. In den Wäldern versammelten sich kleine Trupps, und unter der Führung von Langiewicz begann ein Guerillakrieg gegen die Russen. Etliche ihrer Garnisonen wurden im Handstreich genommen.

      Dies war der Stand der Dinge, als Witold Klodzinski zu Berthold Kempinski in die Stube stürmte, die er von der Witwe Jastrau gemietet hatte.

      »Du, ich habe gehört, dass Ludwik Mierosławski nach Polen kommen wird und sie ihn zum Anführer ausrufen wollen!«

      Berthold Kempinski sah den Freund verständnislos an. »Wer ist Ludwik Mierosławski?«

      »Was, du kennst ihn nicht!« Vorwurfsvoll, fast böse hatte Klodzinski das ausgerufen. »Wo Mierosławski sogar 1848 bei der Märzrevolution dabei gewesen ist.«

      »Entschuldige, da war ich gerade fünf Jahre alt.«

      Witold klärte ihn auf. Geboren worden war Ludwik Mierosławski 1814 in Frankreich als Sohn einer Französin und eines emigrierten polnischen Offiziers. Seit 1820 lebte er in Kongresspolen und war schon 1830, gerade sechzehn Jahre alt geworden, als Fähnrich am Novemberaufstand gegen Russland beteiligt. Nach dessen Niederwerfung flüchtete er nach Paris, um dort später ins Zentralkomitee der polnischen Emigranten gewählt zu werden. 1846 und erst recht im April und Mai 1848 kämpfte er in der Stadt Posen und an verschiedenen anderen Orten, so vor allem in Baden als General und Oberbefehlshaber der dortigen Revolutionsarmee gegen die preußischen Truppen. Nach dem Fall der Festung Rastatt im Juli 1849 ging er in die Schweiz und von dort weiter nach Paris, wo er als Privatlehrer arbeitete. Bis ihn 1861 Giuseppe Garibaldi rief und im Unabhängigkeitskampf der Italiener den Oberbefehl über eine internationale Legion anvertraute. Danach war er Kommandeur der polnischen Militärschule in Genua geworden.

      Mit dem Satz »Man nennt ihn den polnischen Napoleon« schloss Witold Klodzinski seine Ausführungen. »Und nun ist er zurück, um sein Vaterland von den Russen zu befreien, und ich werde morgen früh losziehen und mich seinen Truppen anschließen.«

      Berthold Kempinski schwieg. Er war zutiefst beeindruckt vom Feuer, das in Witold loderte. Dagegen war geradezu läppisch, was ihn bisher bewegt hatte: Luise Liebenthal zu besitzen oder genügend Geld zu haben, um die Weinhandlung seines Bruders aufzukaufen und sich an dessen Stelle zu setzen.

      Witold Klodzinski begann die polnische Nationalhymne zu singen. »Jeszcze Polska nie zginela … Noch ist Polen nicht verloren,/In uns lebt sein Glück./Was an Obmacht ging verloren,/bringt das Schwert zurück.«

      Berthold Kempinski war an sich jedes Pathos zuwider, und normalerweise hätte er das Gesicht verzogen, aber bei dem Freund war das alles derart echt, dass er es nicht wagte. Außerdem war er in hohem Maße ergriffen. Er begann, Witold um dessen Patriotismus zu beneiden. Das war etwas, an dem man sich festhalten konnte. Einen solchen Anker für seine Seele hatte er nicht. Als echter Deutscher konnte er sich nicht fühlen, zu diskriminiert waren die Juden in Preußen noch immer, und seine Distanz zum Judentum war zu groß, da kam wenig von innen. Wie glücklich musste einer wie Witold sein, der keine Sekunde zögerte, sein Leben für das Glück seines Volkes herzugeben.

      »Willst du nicht mitkommen?«, fragte der Freund und legte ihm den Arm um die Schultern.

      »Warum eigentlich nicht? Was hab ich groß zu verlieren …«

      Raphael Kempinski kam aus dem Krankenzimmer, nachdem er seiner Frau eine Hühnersuppe gebracht hatte, der man nachsagte, dass sie Kraft gab. Sie siechte immer schneller dahin. Dr. Dramburger wusste keinen Namen für ihre Krankheit. Bis jetzt hatte Raphael Kempinski das Leben gemeistert, indem er immer und überall seinen Humor einsetzte. Starb aber das Liebste, was er hatte, unter so entsetzlichen Leiden, dann half ihm auch der nicht mehr. Blieb ihm nur, sich in die Arbeit zu flüchten. So stieg er in sein Kontor hinab und machte sich daran, seine Geschäftsbücher durchzugehen und nachzutragen, was noch auf dem Schreibpult lag.

      Er hatte gerade eine halbe Stunde über allem gebrütet, da wurde kräftig gegen die Haustür geklopft. So früh schon der erste Kunde? Das konnte nicht sein. Er stand auf und trat in die Diele. Seit in Posen und im angrenzenden Schlesien immer wieder Menschen spurlos verschwanden, war er vorsichtig geworden und fragte erst, wer da wohl sei.

      »Ein Bote aus Ostrowo, von Professor Lagow.«

      Raphael Kempinski fühlte, wie sein Herz aussetzte. »Ist was mit Berthold?«

      »Ja, er ist weg, nach Kongresspolen rüber, und will zu den Aufständischen.«

      »Mein Gott!« Raphael Kempinski musste sich festhalten, sonst wäre er nach vorn gestürzt. Es dauerte Sekunden, bis der Schwindel vorüber war und er dem Jungen aus Ostrowo öffnen konnte. »Komm rein und erzähl mal, was passiert ist.«

      Der Junge trat ein, nahm die Mütze ab und erstattete Bericht. »Die Witwe Jastrau wacht auf und macht Frühstück. Sie ruft nach Berthold. Keine Antwort. Sie sieht in seiner Stube nach – das Bett ist leer. Da erinnert sie sich, dass der Pole, der am Abend da war, sein Freund Witold Klod … Klod …«

      »Lass, nur weiter!«

      »Der wollte also zu den Soldaten rüber, zu den Polen, und gegen die Russen kämpfen, und da ist der Berthold nun mit.«

      »Man muss ihn aufhalten!«, schrie Raphael Kempinski.

      »Ja, das sagt der Professor Lagow auch, und er ist mit dem Herrn Rabbiner Ungar zusammen hinterher … Sie haben sich eine Kutsche gemietet und sind ab nach Kalisch.«

      »Ich muss ihnen nach!«

      Raphael Kempinski entlohnte den Boten, informierte dann den inzwischen eingetroffenen Kommis und lief zur Apotheke. Sein Freund Eduard Schlüsselfeld verfügte über Pferd und Wagen. Als er hörte, was vorgefallen war, ließ er hurtig anspannen.

      »Du hast recht, Raphael, wenn wir ihn nicht abfangen, kriegst du ihn nur im Sarg zurück. Die Russen sind auf Dauer derart in der Übermacht, dass die Polen keine Chance haben und die Aufständischen allesamt massakriert werden. Der Bär zerfleischt die Schafe, wie immer.«

      »Wie konnte das nur angehen?«, rief Raphael Kempinski, während er sich auf den Kutschbock schwang. »Berthold ist doch ein viel zu heiterer Mensch, als dass er auf andere schießt.«

      »Der Freund ist ein Eiferer, ein Feuerkopf, ein kleiner Savonarola, der wird ihn mitgerissen haben.«

      »Mitgegangen, mitgehangen.« Raphael Kempinski hatte das Erschießungskommando vor Augen. Wie man die Gewehre auf seinen Sohn anlegte. Feuer!

      »Wenn die beiden zu Fuß sind, werden wir auf alle Fälle vor ihnen an der Grenze sein«, sagte Schlüsselfeld. Nach Kalisch waren es auf direktem Wege knapp dreißig Kilometer.

      Raphael Kempinski überlegte trotz aller Hetze und Panik einen Augenblick lang, wie wohl optimal vorzugehen war. »Wir sollten bei Droszew abbiegen und nach Skalmierzyce fahren, das liegt auf ihrem Weg von Ostrow nach Kalisch, und da stoßen wir schon auf sie, bevor sie in der Nähe der Grenze angekommen sind.«

      Der Apotheker nickte. »Gut. Also über Drosenau und Skalmierschütz Richtung Russisch-Polen.« Mit Absicht wählte er die deutschen Namen der genannten Orte.

      Raphael Kempinski konnte es nicht schnell genug gehen, und er verfluchte die Behörden, die es noch immer nicht geschafft hatten, die Städte im Dreieck Posen–Breslau–Kalisch mit Eisenbahnen zu verbinden.

      Schlüsselfeld nickte. »Recht hast du! Hüh! Mach hinne, du dösiger Krippensetzer!« Sein Brauner lief ihm nicht schnell genug. »Wenn man Posen germanisieren will, muss bei uns alles besser sein als anderswo. Und wehe uns, wenn die Polen den Zaren besiegen und einen der Ihren zum König machen, dann wird man in Warschau nichts weiter im Kopf haben, als Preußen Posen wieder zu entreißen – und womöglich Schlesien dazu.«

      »Mir kann es egal sein, was in zwanzig Jahren sein wird, da deckt mich schon längst der kühle Rasen.«

      »Da freust du dich wohl drauf?«, fragte Schlüsselfeld.

      »Du hast mehr vom Leben, wenn