Horst Bosetzky

Kempinski erobert Berlin


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gleichviel, ob nun Deutsche, Polen oder Juden.«

      »Sehr gut, Kempinski!« Der Professor vermerkte eine Eins in seinem Notenbüchlein. »Das Verbrechen, das Böse, eint also die aufrechten Gemüter und erinnert zugleich an das Gebot Du sollst nicht töten, bewirkt also auch dadurch Gutes. Da haben wir also ein treffliches Beispiel für Goethes These. Aber wie ist es mit: Denn alles, was entsteht,/Ist wert, dass es zugrunde geht? Wie lässt sich das interpretieren und mit einem Beispiel belegen?«

      Mehrere Wortmeldungen erfolgten, er entschied sich für Witold Klodzinski.

      Dessen Augen blitzten. »Die preußische Provinz Posen, Herr Professor! Sie ist es wert unterzugehen.«

      »Ich verbitte mir das!«, rief Lagow.

      Doch Klodzinski war nicht so schnell zum Schweigen zu bringen und konterte mit der nachfolgenden Zeile aus dem Faust: »Steht doch hier: Drum besser wär’s,/dass nichts entstünde

      Der Pedell schwang die Glocke, um zur Pause zu läuten, und beendete das Gefecht im Klassenzimmer der Unterprima.

      Ostrowo sollte erst 1887 Kreisstadt werden, aber bereits im Jahre 1861 war es bedeutender als Adelnau, zu dessen Kreis es offiziell gehörte, denn die meisten Kreisbehörden – so Landrat, Katasteramt, Standesamt und Kreisgericht – hatten ihren Sitz in Ostrowo. Das konnte man in gewisser Weise als Wunder werten, denn 150 Jahre zuvor, genau gesagt, 1711, hatten die Bürger, zumeist Ackerbürger, geplagt von der Pest und großen Bränden, die Annullierung der Stadtrechte beantragt, weil sie sich nicht mehr in der Lage sahen, ihre Steuern zu bezahlen. Aber auch vorher konnte von großer Blüte nicht die Rede sein, denn Ostrowo stand im Schatten der alten, reichen und ziemlich unbeliebten Nachbarstadt Kalisch und war nur eine bessere Karawanserei an der wichtigen Handelsstraße Breslau–Kalisch–Thorn. 1714 erfolgte dann die Neugründung der Stadt durch ihren neuen Eigentümer, Jan Jerzy Przebendowski, den Großschatzmeister von Polen. Mit neu ins Land geholten Siedlern ging es aufwärts. Ein Fünftel der Einwohner waren Deutsche, die 1778 eine Fachwerkkirche errichteten. Nach 1815 gaben sich die Preußen alle Mühe, Ostrowo zu einer Vorzeigestadt zu machen, denn bis nach Kalisch, das schon zu Kongresspolen gehörte, mithin also zum russischen Zarenreich, waren es nur 21 Kilometer. Aus der Ackerbürger- wurde eine Handelsstadt mit preußisch-wilhelminischem Gepräge und sich ansiedelnder Industrie. Tuchwebereien gab es, Ziegeleien, eine Dampf- und eine Schneidemühle. Man glaubte an den Fortschritt und begann gerade mit dem Bau eines Amtsgerichtes mit angeschlossenem Gefängnis. Angedacht waren ein Gaswerk, eine repräsentative Kaserne für das 37. Infanteriebataillon und die 1. Eskadron Ulanen, eine Synagoge, ein Waisenhaus und eine neue katholische Stadtpfarrkirche. Auch um einen Eisenbahnanschluss bemühte man sich, doch es sollte noch bis 1875 dauern, bis die Gleise nach Posen und Kreuzburg befahren werden konnten. Etwa sechzig Prozent der Einwohner waren Polen, dreißig Prozent Deutsche und zehn Prozent Juden.

      Raphael Kempinski war es dank seiner vielen Kontakte gelungen, für seinen Sohn ein kleines Zimmer am Ostrowoer Ring zu mieten, von dem aus Berthold einen herrlichen Blick auf Markt und Rathaus hatte. Der hatte sich außerstande erklärt, die zehn Kilometer, die es auf der Landstraße von Raschkow nach Ostrowo waren, jeden Morgen und jeden Abend zu Fuß zurückzulegen, da wäre er ja insgesamt vier Stunden unterwegs. Moritz hatte gemeint, dies sei einem gesunden Mann durchaus zuzumuten und Soldaten marschierten vierzig bis fünfzig Kilometer am Tag, ohne zusammenzubrechen. »Gelobt sei, was hart macht!« Sein Vater hatte zum Glück Mitleid mit Berthold gehabt und überlegt, einen Fuhrmann anzuheuern. Dies wäre aber ungleich teurer gekommen, als das Zimmer bei der Witwe Jastrau zu mieten.

      Berthold Kempinski litt einerseits unter der Trennung von seiner Familie, denn die war sein Ein und Alles, andererseits aber war es auch schön, der Knute seines großen Bruders und dem dauernden Geschrei der kleineren Geschwister entkommen zu sein.

      Wilhelmine Jastrau, die langsam auf die sechzig zuging, hätte man glattweg für eine englische Gouvernante halten können. Sie kam aber nicht aus Lancester, sondern aus dem ostfriesischen Leer, das zur preußischen Provinz Hannover gehörte. Ihr Vater hatte dort ein gehobenes Hotel betrieben und während der Manöver auch gern die Herren Offiziere beherbergt. So hatte Wilhelmine Jastrau ihren Mann kennengelernt. Leider keinen Mann von Adel, aber immerhin. So groß war die Liebe gewesen, dass sie ihm sogar ans Ende der Welt gefolgt war, nach Posen. Nach seinem Tode war sie der Kinder wegen in der Gegend geblieben.

      Gern bekochte sie Berthold, und kam der am frühen Nachmittag aus der Schule, stand schon das Essen auf dem Tisch. Dabei bemühte sich die Offizierswitwe, ein Ambiente zu schaffen, das sie an die Zeiten erinnerte, in denen sie mit ihrem Mann in den ersten Häusern am Platze gespeist hatte.

      »Damals in Berlin … ach ja … die zauberhafte Conditorei von Fuchs, wo die hellen Gaslaternen durch Tausende von facettierten Spiegeln ein Lichtermeer ausgießen … das Delicatessenlocal von Dünnwald am Brandenburger Tor, wo man die erlesensten Weine genießen kann …«

      »Wie ist es denn in Berlin generell mit den Weinen bestellt?«, fragte Berthold Kempinski, während er sich daranmachte, die erste Scheibe seiner gebratenen Blutwurst auf die Gabel zu spießen. War er am Wochenende in Raschkow, konnte er Moritz mit seinem Wissen ein wenig ärgern.

      »Bier ist die Hauptsache, dann kommt der Branntwein und erst an dritter Stelle der Wein. In den großen Delicatessenhandlungen findet man natürlich welchen. Fast jede Weinhandlung hat ihre bestimmten Stammgäste, die dem Charakter der Gegend entsprechen, in der sie liegt. Lutter ist der Sammelplatz der Hofschauspieler, Rähmel sieht großenteils den mittleren Beamtenstand bei sich, der den Aktenstaub hinwegschwemmen muss, Gerold gehört den Aristokraten, für die nur gut ist, was viel kostet, Dedel dem Bonvivant jeder Klasse und Habel dem Geschäftsmann. Als mein Mann in Berlin stationiert war, haben wir Habel bevorzugt, um den großen Devrient leibhaftig vor uns zu haben.«

      Durch Wilhelmine Jastrau wurde Berlin für Berthold Kempinski zu einem El Dorado des Savoir-vivre. Obwohl es ihm schwerfiel, stellte er sich vor, ein großer Arzt an der Charité zu sein. Jeden Abend saß er dann bei Dedel und genoss seinen Schoppen.

      »Von wem haben Sie denn diesen Tokaji Aszú bezogen?«

      »Von Moritz Kempinski.«

      »Dann sagen Sie ihm bitte, dass er dieses fürchterliche Bonbonwasser gleich in den Ausguss schütten möge.«

      Wie er als Junge zu Hause Gastwirt gespielt hatte, so spielte seine Wirtin jetzt feines Hotel und servierte ihm seine Suppe, sein Hauptgericht und seinen Nachtisch wie einem Kommerzienrat.

      »Bei uns zu Hause in Leer haben wir uns immer bemüht, den Gästen das Gefühl zu geben, wir führten eine raffinierte Küche à la française, wie sie in Berlin in den großen Hotels zu finden ist. Die Table d’hôtel bei Meinhardt, im Hôtel St. Petersburg oder im Hôtel du Nord lässt wirklich nichts zu wünschen übrig.«

      Berthold Kempinski fand es herrlich, auf diese Weise verwöhnt zu werden. Das Leben liebte ihn, und er liebte das Leben. Nur manchmal kamen kleine Störgefühle auf, so zum Beispiel, wenn Veitel Ungar auftauchte, um mit ihm zu reden. Doch es war unmöglich, diesen einfach abzuweisen, wenn er bei der Witwe Jastrau vorbeikam, um ihn zu einem kleinen Spaziergang abzuholen.

      »Der Ewige möge mein Elend sehen und mich erretten.« Wie immer sang der Rabbiner seine Klagelieder. »Dauernd säe ich mit Tränen, aber nie darf ich mit Freuden ernten.«

      Berthold Kempinski ärgerte das ewige Jammern über das gottverlassene Posen, das nicht nur bei Ungar, sondern auch bei vielen andern in Raschkow, Adelnau und Ostrowo nie verstummen wollte. Was sollte denn aus der Menschheit werden, wenn alle nach Paris, London und Berlin zogen, dann brach doch alles zusammen! Über den ganzen Erdball mussten sich die Menschen verteilen, wollten sie in Frieden und im Wohlstand leben.

      Als er Veitel Ungar dies vortrug, lachte der nur. »Und selber träumst du ständig von Berlin, oder zumindest von Breslau.«

      »Träumen ist ja etwas anderes.«

      »Im Tagtraum probt man immer Künftiges«, hielt ihm Veitel Ungar entgegen.

      Als sie am Ufer des Olobok saßen und er dem Rabbiner erzählte, dass sie