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Gesicht des Freundes verdüsterte sich. »Eines Tages wird auch Ostrowo wieder eine Stadt in Polen sein«, lautete die Prophezeiung.

      »Das kann mir egal sein, da bin ich schon lange in Breslau.« Berthold Kempinski suchte, die Sache leicht zu nehmen.

      »Jedes Volk hat das Recht auf einen eigenen Staat«, sagte Witold Klodzinski.

      »Wir Juden haben ja auch keinen«, erwiderte Berthold Kempinski. »Man kann auch so glücklich und in Frieden leben.«

      Jetzt wurde der Pole drastisch. »Ja, bis zur nächsten Judenverfolgung.«

      »Nicht in Preußen!«, rief Berthold Kempinski.

      »Nie was von Zionismus gehört?«, fragte Witold Klodzinski.

      »Du meinst: Zynismus?«

      »Nein, Zionismus – dass die Juden um Jerusalem herum wieder einen eigenen Staat haben.« Witold Klodzinski hatte von seinem Vater gehört, dass ein gewisser Moses Montefiore, erschüttert von den grausamen Judenverfolgungen im Russischen Reich, Pläne hegte, in Palästina Land von arabischen Großgrundbesitzern zu kaufen und es verfolgten russischen Juden zur Verfügung zu stellen. »Zionismus spielt an auf Zion, den Tempelberg in Jerusalem, und die Erwartung, dass die nach Babylon vertriebenen Juden wieder heimkehren zum Berge Zion.«

      Berthold Kempinski interessierte das wenig. »Ich bin Deutscher, ich bin Preuße, und ich will nicht in Jerusalem leben, sondern in Berlin.«

      »Ich weiß, als Arzt.«

      »Nein. Seit ich damals den Regierungsreferendarius mit seinem eingeschlagenen Schädel gesehen habe …« Berthold Kempinski schüttelte sich. Von Jahr zu Jahr wuchs sich dieser Anblick mehr und mehr zu einem Trauma aus. »Ich glaube nicht, dass ich es im Studium aushalten kann, wenn man Leichen öffnen muss.«

      »Was willst du denn sonst nach der Schule machen?«

      »Keine Ahnung. Mich treiben lassen. Es geschieht ja doch nur das, was einem vorbestimmt ist.«

      Witold Klodzinski staunte. »Ich denke, du bist kein religiöser Mensch?«

      Berthold Kempinski zeigte auf eine Zeitung, die am Boden lag. »Siehst du die Ameise, die da über den Leitartikel läuft?«

      »Ja, wieso?«

      »Die versteht von dessen Inhalt so wenig wie wir vom Sinn des Lebens und unseren Wegen.«

      »Damit, Berthold, bleibt dir doch nur eins: im Leben zu scheitern.«

      »Dann scheitere ich eben. Lieber fröhlich scheitern, als unfroh etwas Großes werden.« Einen Augenblick zögerte er, dann fügte er noch hinzu: »Am besten wäre es natürlich, man wird etwas im Leben und ist fröhlich dabei.«

      Berthold Kempinski war kein großer Marschierer. Ihm reichte es, von der Dachstube in den Weinkeller zu laufen, das war Bewegung genug. Und nun die zehn Kilometer nach Raschkow. Erst kam Radlow, dann Jaskolki, schließlich Przybyslawice, ehe man die Türme von Raschkow erblickte. Immerhin hatte das Ganze den Vorteil, dass er Zeit hatte, um über alles nachzudenken.

      Seiner Mutter ging es nicht gut. Sie war eine geborene Liebes und – nomen est omen – hatte etwas ungemein Liebes an sich. Sie war von einer unerschöpflichen Güte und Sorge, was ihre Kinder betraf. Er liebte auch ihren Vornamen, Rosalie, das ließ an eine wunderschöne Rose denken. Nun, leider Gottes war die Rose Rosalie früh am Welken, wie es neulich Dr. Dramburger formuliert hatte. Die vielen Geburten hatten sie früh altern lassen.

      Was ihm auch immer wieder durch den Kopf ging, war die Frage, welchen Beruf er denn nun ergreifen sollte, schließlich ging im nächsten Jahr die Schulzeit zu Ende. Nach der Sache mit dem Regierungsreferendarius war er nicht mehr in der Lage, eine Leiche zu sehen, ohne zu kollabieren – wie sollte er da ein Medizinstudium durchstehen können? Nach der ersten Stunde in der Pathologie hätte man ihn aussortiert. Der nächste Wunsch seines Vaters ging in Richtung Jurisprudenz. Aber er hatte eine natürliche Abneigung gegen alle Rechtsverdreher. Und in den Staatsdienst kam er als Jude nicht. Auch in der Armee war er chancenlos, da machte eine Schwalbe, sprich Meno Burg, noch lange keinen Sommer. Außerdem war es für ihn ein schrecklicher Gedanke, auf einem Pferd zu sitzen und mit dem Säbel anderen den Schädel zu spalten oder sie mit einer Kugel zu töten. Nein, nie und nimmer Offizier! Was kam denn noch in Frage? Von Bankier war zu Hause des Öfteren die Rede gewesen. Jude und Geld verleihen, das schien für die Leute eins zu sein, doch er hatte keine besondere Beziehung zum Geld, und der Gedanke, durch Zinsen reich zu werden, erfüllte ihn mit Ekel. Was blieb ihm anderes übrig, als Händler zu werden? Am liebsten Weinhändler, davon verstand er schon ein wenig. Aber er konnte doch seinem Vater keine Konkurrenz machen, und später dessen Geschäft zu übernehmen ging nicht, denn das fiel schon Moritz zu. Und wozu war er der beste Schüler seines Jahrgangs, er musste ganz einfach etwas studieren. Aber was?

      Erklärt Euch, eh’ Ihr weiter geht,/Was wählt Ihr für eine Fakultät? Plötzlich hatte er Mephistopheles im Ohr. Und gleichzeitig hörte er auch Professor Lagow, wie der ihn drängte, bei seiner außergewöhnlichen Begabung Geschichte und Philosophie zu studieren. Nachher, vor allen andern Sachen,/Müsst Ihr Euch an die Metaphysik machen!/Da seht, dass Ihr tiefsinnig fasst,/Was in des Menschen Hirn nicht passt … So stand es im Faust, aber das war ja alles nichts als Hohn und Spott und mündete in die eine große Erkenntnis: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,/Und grün des Lebens goldner Baum.

      Was bedeutete, dass es doch am besten war, ein Restaurant aufzumachen. Aber wo und vor allem: womit? Geld hatte er keines, und der Vater hatte auch nicht so viel auf der Bank liegen, dass er ihm den Start finanzieren konnte. Es war alles schier aussichtslos.

      Da hörte er ein Fuhrwerk hinter sich. Als er sich umdrehte, erkannte er den Händler, der immer mit seinen Sägen, Beilen, Äxten, Hämmern, Feilen, Scheren und Messern auf den Märkten stand.

      Schon hielt Krojanke neben ihm. »Na, wie isses, kann ich dich ’n Stück mitnehmen?«

      »Ja, gerne.« Berthold Kempinski schwang sich auf den Kutschbock und war froh, nicht mehr die Landstraße entlanglatschen zu müssen.

       Kapitel 3 1862–1864

      Am 23. September 1862 wurden im Schloss Babelsberg die Weichen für Preußens und Deutschlands Zukunft gestellt, an diesem Tage berief König Wilhelm I. Fürst Otto von Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten. Mit schneidigen Kommentaren wie »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut« setzte Bismarck die Rechte des Parlaments außer Kraft und schaffte mit einer umfassenden Heeresreform die Voraussetzungen für die siegreichen Kriege gegen Dänemark (1863/64) und Österreich (1866). Damit war die Vorherrschaft Preußens in Deutschland gesichert, und es lief auf ein Kaiserreich mit Berlin als Hauptstadt hinaus. Alles deutete darauf hin, dass alsbald eine neue Zeit anbrechen würde. Bis hin nach Schlesien und Posen wurden die Menschen von innerer Unruhe erfasst.

      Im Dorf mit dem schönen Namen Honig, nordwestlich von Medzibor an der Straße von Ostrowo nach Oels und Breslau gelegen, saß Luise Liebenthal aus Raschkow in der Küche des Bauern Gurkow und entsteinte Sauerkirschen. Zu diesem Zwecke hatte sie eine Haarnadel mit dünnem Draht an einem hölzernen Stiel befestigt und fuhr mit der stählernen Schlaufe ins Fruchtfleisch, um den Stein einzuklemmen und in eine bereitstehende Schüssel zu befördern. Die so von ihrem unnütz gewordenen Ballast befreite Kirsche kam in einen Kochtopf. Es spritzte gewaltig.

      Heinrich, der älteste Sohn des Bauern, stand in der Tür und musterte sie mit einem Blick, den man nicht anders als begehrlich nennen konnte. Er lachte. »Du siehst ja aus, als hätte einer auf dich eingestochen.«

      »Hör auf damit!« Sie versuchte, sich den blutroten Kirschsaft aus dem Gesicht zu wischen, aus der Schürze würde er wohl nie mehr herausgehen.

      »Heute Abend ist Tanz im Krug.«

      Luise machte eine abwehrende Bewegung. »Mir ist nicht so.«

      »Du hast immer noch diesen Berthold Kempinski im Kopf.«