Horst Bosetzky

Kempinski erobert Berlin


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Scheibe um Raschkow herum. Auf der einen Seite reichte sie bis zur Stadt Posen, auf der anderen bis nach Breslau. Dahinter kam der Rand, und man fiel in die Hölle, sollte man weitergehen. Erst langsam hatte er begriffen, dass die Scheibe viel größer war, und nicht Raschkow war ihr Mittelpunkt, sondern Berlin. Mit zwölf Jahren wusste er natürlich, dass die Erde eine Kugel war, und wenn die Erwachsenen nun davon sprachen, dass Berlin in den nächsten hundert Jahren der Nabel der Welt werden würde, sah er sich darin bestätigt. Aus dem Geschichtsunterricht wusste er, dass jeder Bürger des gewaltigen Römischen Reiches sein Glück nur in Rom selber finden konnte. Wer anderswo lebte, der lebte nicht eigentlich. Und im Deutschen Kaiserreich würde es nicht anders sein. Entweder man ging nach Berlin, oder man verschlief sein Leben. Er nahm es als Omen, dass Berlin und sein Vorname die ersten drei Buchstaben gemeinsam hatten.

      Veitel Ungar, über drei Ecken mit den Kempinskis verwandt, kam das Stichwort Berlin sehr gelegen, und er berichtete von seinem jüngsten Besuch in der preußischen Residenz.

      »Sie haben letztes Jahr den Tempel der Jüdischen Reformgemeinde in der Johannisstraße geweiht, und mein Freund Samuel Holdheim ist erster Rabbiner geworden. Die Liberalen wollen in der Oranienburger Straße eine riesige neue Synagoge bauen.«

      Dr. Dramburger winkte ab. »Sollen sie lieber Fabriken bauen, das bringt mehr Segen für alle, Lokomotivfabriken vor allem, damit wir endlich eine Eisenbahn nach Raschkow kriegen, auch gegen den Widerstand unserer Gräfin. Wenn man in fünf Stunden in Berlin sein könnte …«

      Berthold Kempinski erhoffte sich nichts sehnlicher. Gleichzeitig hatte er Angst vor Berlin. Das war ein Moloch, der ihn verschlang. Wie hieß es immer: Der Mensch versuche die Götter nicht. Wenn er sich irgendwo zurechtfinden und durchs Leben schlagen konnte, dann vielleicht in Adelnau und Ostrowo, vielleicht auch noch in Breslau, aber nie und nimmer in Berlin.

      Die Runde fragte den Rabbiner, was es denn in Berlin Neues gäbe.

      »Nu, sie haben da Säulen auf den Straßen.«

      »Ja, Kotsäulen«, rief Raphael Kempinski. »Von den vielen Hunden.«

      »Nein, mit Reklame drauf.«

      »Für Hundefutter?«

      »Wirst du mich wohl ausreden lassen! Hohe Säulen aus Blech, die ein Herr Litfaß aufstellt, damit man Plakate drauf anschlagen kann.«

      »Und was ist drin?«

      »Was soll drin sein? Luft.«

      »Keine Bedürfnisanstalt?«

      »Nein. Die Pissoirs stehen daneben, sehen aus wie antike Rundtempel und haben eine Palmettenbekrönung.«

      Berthold Kempinski konnte es nicht fassen. In Berlin erleichterten sie sich nicht in hölzernen Buden, sondern in kleinen Tempeln. Was für eine herrliche Stadt musste das sein!

      Friederike Gnadenfroh bemühte sich nun, das Niveau der Tafelrunde wieder etwas zu heben, und fragte, ob denn jemand schon den neuen Roman von Joseph Victor von Scheffel gelesen habe.

      Nein, den Roman Ekkehard kannte niemand, Friedrich Wilhelm von Kraschnitz nutzte aber die Gelegenheit, um auf Gustav Freytag und dessen neuestes Werk Soll und Haben hinzuweisen. »Den Freytag kenne ich noch aus der Zeit, als er Privatdozent an der Universität in Breslau gewesen ist. Bis 1847, glaube ich. Jetzt sitzt er in Dresden, und sein Freund Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha hat ihn zum Hofrat gemacht.«

      Veitel Ungar verzog das Gesicht. »Soll und Haben ist ein übles Machwerk und sollte vom König verboten werden, weil es Hass und Zwietracht sät. Der deutsche Kaufmann wird bei ihm als tüchtig und redlich, der jüdische als faul und betrügerisch dargestellt, und die polnische Landbevölkerung erscheint als eine Schar von halbwilden Barbaren.«

      »Ich habe gehört, dass es ihm nur um das aufstrebende deutsche Bürgertum geht«, sagte Landrat Gnadenfroh. »Daran kann ich nichts Verwerfliches finden. Und wenn ich an unseren polnischen Hausmeister, den Kadschinsky, denke, dann kann ich ihm so unrecht nicht geben. Der zieht eine derartige Wodkafahne hinter sich her …«

      »Auf meine Polen lasse ich nichts kommen!«, rief da von Kraschnitz. »Das bin ich meinem Freund Antoni schuldig.«

      Fürst Anton Heinrich Radziwiłł, geboren 1775 in Wilna, entstammte dem reichsten und mächtigsten Adelsgeschlecht der ersten Polnischen Republik, hatte in Göttingen studiert und war an den preußischen Hof gekommen, wo er 1796 Prinzessin Luise Friederike von Preußen geheiratet hatte, die Nichte Friedrichs des Großen und Schwester des von allen angebeteten Prinzen Louis Ferdinand. 1815, als das Posener Gebiet als Großherzogtum an Preußen gefallen war, kam er als preußischer Generalleutnant und Statthalter des Königs nach Posen und bemühte sich um die Versöhnung von Polen und Deutschen. Mit dem Ausbruch des Novemberaufstandes in Kongresspolen war dieser Traum aber ausgeträumt, zumal sein Bruder Michał den Oberbefehl über die aufständischen polnischen Truppen innehatte. 1831 war das Ende der Posener Statthalterschaft gekommen, 1833 starb Radziwiłł in Berlin.

      »Begraben ist er aber im Dom zu Posen«, sagte von Kraschnitz. »Und oft genug pilgere ich dorthin.«

      »Posen ist eine Totgeburt«, sagte Schlüsselfeld. »Polen und Deutsche sollten getrennt leben und wirtschaften.«

      »Wir Juden sind doch die verbindende Klammer«, rief Veitel Ungar.

      »Und der ungarische Wein«, fügte Raphael hinzu.

      »Nicht zu vergessen: das deutsche Beamtentum.« Das zu betonen, konnte sich der Landrat nicht nehmen lassen.

      »Ausgerechnet Sie mit Ihrem Kastengeist!«, protestierte Dr. Dramburger. »Immer neue Heerscharen von Beamten schickt Berlin nach Posen und verschärft damit nur die Trennung der Gesellschaftsklassen.«

      »Das Deutsche wird sich alsbald durchsetzen«, sagte Schlüsselfeld, »denn der Deutsche hat die überlegene Technik. Gerade hat Robert Wilhelm Bunsen herausgefunden, wie man mit Hilfe der Elektrolyse Aluminium herstellen kann.«

      Berthold Kempinski wurde vom Vater in den Keller geschickt, um neuen Wein zu holen. Ihm schien, dass die Erwachsenen die Welt nur ertragen konnten, wenn sie tranken. Somit hatte derjenige, der mit Weinen handelte, immer ein gutes Auskommen.

      Irgendwie lag es ihm im Blut. Schon als Siebenjähriger hatte Berthold Kempinski nichts lieber als Gasthof gespielt. Im Hof des väterlichen Haus stand ein alter Küchentisch, an dem man im Sommer hin und wieder speiste und an dem die Mutter und die größeren Kinder Brechbohnen schnipselten, die Steine aus Kirschen und Pflaumen pulten, rote und weiße Johannisbeeren von den Rispen streiften und Kartoffeln schälten. War dieser Tisch einmal frei, stibitzte er sich ein altes Bettlaken, um es als Tischdecke zu nutzen, und schaffte angestoßene Teller und Gläser herbei, auch verbogene Gabeln und Löffel und stumpfe Messer. Dann war er Gastwirt, Koch und Ober in einem und brachte seinen Gästen alles, was deren Herz begehrte.

      »Für mich bitte den Hirschbraten mit Preiselbeeren und den passenden Rotwein dazu«, verlangte Moritz, sein älterer Bruder.

      Berthold beeilte sich, alles so schnell wie möglich zu servieren. Ein Stück dunkles Brot wurde zum Hirschbraten, ein Klacks Kirschmarmelade kam als Zierde hinzu. Die Salzkartoffeln waren sogar echt und vom Mittagessen übriggeblieben, auch der Kirschsaft, der den Rotwein ersetzte, konnte getrunken werden.

      »Sind der Herr zufrieden?«, fragte Berthold.

      »Sehr wohl.«

      »Danke.« Berthold machte eine leichte Verbeugung.

      Sein Freund Ludwig Liebenthal war weniger anspruchsvoll als Moritz und begnügte sich mit einer Erbsensuppe. »Die kann auch ohne Speck sein.«

      »Nein, nicht doch, Sie sollen sich bei mir fühlen wie der Herr Baron von Kraschnitz. Also mit viel Speck.«

      Die Suppe wurde aus Wasser, vorzeitig vom Baum gefallenen kleinen Kastanien, zerriebenen Blättern und Brennnesseln zusammengerührt, als Speck musste zerstückelte Kiefernborke dienen.

      Ludwig Liebenthal, der ewig hungrig war, verzog das Gesicht. »Da ist ja nichts bei, was man wirklich