1. Einschätzung der Leitung des Schiffes durch Kapitän Siegbert Rennecke generell und nach der Grundberührung des Schiffes im Besonderen. Dazu gehört auch sein Alkoholkonsum.
2. Rolle des Chief mate Hans-Joachim Wabst, der zu meinem Lehrjahr (1957) gehörte und den ich als einen sehr sportlichen jungen Mann in Erinnerung habe.
3. Verhalten der Brückenwache vor und während der Grundberührung.
Als sehr informativ empfinde ich die vom Seeamt Lübeck im Spruch angeführten Zeugenaussagen der Überlebenden. Im Spruch der Seekammer fehlt vor allem eine Aussage des Funkers Schultze, des einzigen überlebenden Offiziers vom Vorschiff.
Der Motortanker BÖHLEN
Ein Gespräch mit Kapitän Rolf Permien, der als Verantwortlicher für die Seeunfalluntersuchung der DSR den Funker befragte, konnte die Fragen nicht völlig beantworten, aber zumindest die Situation ein wenig aufhellen.
Kapitän Rennecke war nicht betrunken, diese Aussage ist eindeutig. Davon bin ich bei meiner Einschätzung der Situation auch nie ausgegangen. Allerdings war er Alkoholiker. Dies berichtete mir der Politoffizier Rudi Gündel, der darüber den Flottenbereich Spezialschiffahrt informierte. Die medizinische Forschung hat schon seit Langem herausgefunden, dass Alkoholmissbrauch zu psychischen, sozialen oder körperlichen Schäden führt. Eine deutliche Leistungsminderung und Störungen in der Leistung von Gedächtnis, Konzentration, Antrieb und Aufmerksamkeit gehören zum Krankheitsbild. Welche Erklärung ist sonst für den Fakt vorstellbar, dass ein Kapitän über viele Stunden nichts zur Rettung seines Schiffes und seiner Besatzung unternimmt. Die leitenden Offiziere sollen angenommen haben, dass ein Tankschiff unsinkbar sei. Das ist ein Gedanke, der seit dem Untergang der TITANIC abenteuerlich ist. Von der Brücke war über Stunden zu beobachten, wie sich die Lage des Schiffes verschlimmerte. Warum hat Wabst nicht eingegriffen?
Hans-Joachim Wabst (1. von rechts) mit anderen Lehrlingen der THEODOR KÖRNER 1959 in Izmir
Diese Frage hat mich, seit einigermaßen verlässliche Aussagen zu dem Seeunfall vorliegen, beschäftigt. Vielleicht liegt die Antwort in den Beobachtungen des Technischen Inspektors Heinz-Jürgen „Atze“ Marnau, der die geretteten Besatzungsmitglieder der Maschine befragte. Er sagte in einem Gespräch zu mir: „Ich wurde beauftragt, die Überlebenden der technischen Besatzung zu befragen. Die Überlebenden haben aus falsch verstandener Kameradschaft und weil sie unberechtigt Angst hatten, dass die Versicherung für die auf See Gebliebenen nicht zahlen könnte, mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten. Sie gaben mir verschiedene Informationen, erlaubten mir aber nicht, diese aufzuschreiben oder zu verwenden. Sie machten mir klar, dass sie diese Aussagen vor der Seekammer nicht machen würden. Aus diesen wurde deutlich, dass der Dienstbetrieb auf dem Schiff in allen Bereichen von großer Schlamperei gekennzeichnet war. Dafür war im Maschinenbereich der Chief verantwortlich.
Chief „Atze“ Marnau beim täglichen Kontrollgang im Maschinenraum
Da er seine Frau mit an Bord hatte, kümmerte er sich noch weniger als sonst um den Dienstbetrieb. Er ist auch vom Wachingenieur nach der Grundberührung nicht angemessen informiert worden. Es wurden nicht alle möglichen und notwendigen Kontrollen vorgenommen. Eines der Probleme auf dem Schiff war, dass dort in einem für die Sicherheit eines Tankers unverantwortlichen Maße getrunken wurde. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass die Inspektion dies nicht gewusst hat.“
Es ist sehr gut vorstellbar, dass sich Wabst aus dieser verfahrenen Situation nicht lösen konnte. Die Aussagen der Seekammer zur Navigation des Schiffes unterstreichen die Beobachtungen von Marnau. Im Spruch der Seekammer heißt es: „Auf Grund mangelhafter Navigation, die in der unzureichenden Ausnutzung der an Bord befindlichen nautischen Geräte begründet war, kam MT ‚Böhlen‘ vom vorherbestimmten Kurs ab. Die Nichtberücksichtigung von Wind, Strom und der tatsächlichen Geschwindigkeit des Schiffes führte auf eine Entfernung von 1 100 Seemeilen zu einer Versetzung in Vorausrichtung um ca. 60 Seemeilen und nach Osten um ca. 30 Seemeilen. Der Kurs führte daher auf die Riffe der Inselgruppe Chaussee de Sein. Der wachhabende II. Nautische Offizier Hoppe sowie der Ausgucksmann führten während ihrer Wache Schreibarbeiten durch. Daher bemerkten sie nicht rechtzeitig die 15 bzw. 18 Seemeilen weit scheinenden Leuchtfeuer von Ar Men und Ile de Sein … Die Duldung der Missstände in der Durchführung der Navigation und der Wachen schufen die Voraussetzung der Grundberührung. Die Inkonsequenz in der weiteren Führung des Schiffes nach der Grundberührung führte schließlich zum Untergang des Schiffes und zum Tod einer so großen Anzahl von Besatzungsmitgliedern. Die Schuld am Untergang des Schiffes und am Tod einer so großen Anzahl von Besatzungsmitgliedern trägt der Kapitän.“
Einige Aussagen aus dem Nautischen Untersuchungsbericht der Section des Affaires Maritimes de Bretagne – Vendee a’ Nantes haben mich an der Feststellung der Seekammer, dass der II. NO Schreibarbeiten auf der Brücke durchführte, zweifeln lassen, denn das Geschwaderbegleitschiff DUPETIT THOUARS hatte, als es merkte, dass die BÖHLEN einen gefährlichen Kurs steuerte, versucht, die Aufmerksamkeit des Wachoffiziers des Tankers zu wecken. In dem Bericht heißt es: „Ab 03.37 h (GMT) versuchte der Kommandant des französischen Kriegsschiffes 10 Minuten lang die Aufmerksamkeit des Schiffes auf sich zu ziehen durch Aussenden von Lichtsignalen (wiederholter Buchstabe V) und gleichzeitigem Anruf über UKW Kanal 16 (unbekanntes Schiff – sehen Sie mein Licht – Sie laufen Gefahr – fahren Sie nach links).“ Das französische Kriegsschiff wiederholte die Signale, aber es erfolgte keine Reaktion. Eine Kontrolle des Generalplans der BÖHLEN ergab, dass der Kartenraum des Schiffes kein Fenster hatte und dadurch die Erkennung der Signale des französischen Schiffes erschwert war.
Autor als Kapitän der AQUITANIA mit philippinischen Seeleuten
„Schlamperei“ war das richtige Wort für den Dienstbetrieb auf der BÖHLEN. Dort, wo Schlamperei herrscht, gibt es entweder keine oder zumindest eine unzureichende Seemannschaft. Ungeachtet der generellen Schlamperei hätte ein guter Wachoffizier die Grundberührung verhindern können. Er war aber kein guter Wachoffizier. Abgesehen von seinen Schwächen und den unzureichenden Voraussetzungen für diese wichtige Aufgabe hatte er auch einen Kapitän, der unfähig war, aus ihm einen guten Wachoffizier zu machen.
Es ist sehr schwer, die Gefahren und Bedrohungen, die den Kapitänen durch gegen sie gerichtete Gewalt, durch unterschiedliche Krisen, durch Druck der Schifffahrtsunternehmen, durch eigene schlechte Leitungstätigkeit, durch kulturelle Unterschiede usw. entstehen, mit ihren Ursachen kurz und knapp zu beschreiben. Über Jahrhunderte ging, abgesehen von den Naturgewalten, die größte Gefahr für ihre persönliche Sicherheit von Meutereien aus. Von deutschen Schiffen sind relativ wenige bekannt geworden. Eine war die auf dem seit Wochen vor Iquique liegenden Vollschiff MELPOMENE3. Der Kapitän verweigerte den Seeleuten Landgang und Geld. Irgendwann musste das selbst dem friedlichsten Seemann den Verstand rauben. Zwei Mal warfen sie den Kapitän, die Offiziere und Polizisten über Bord. Beim dritten Mal waren die chilenischen Polizisten stärker. Die „Anführer“ wurden nach Brennecke3 mit einem Dampfer nach Deutschland zur Verurteilung geschickt. Der Kapitän kam ungeschoren davon. In allen mir zur Verfügung stehenden Unterlagen wird nur ein einziges Schiff aus Mecklenburg oder Pommern im Zusammenhang mit dem Begriff „Meuterei“ genannt. Es betrifft die Rostocker Bark ROSTOCK, die 1849 von Wilhelm Zeltz in ihrem Heimathafen gebaut worden war. Nach dem von Matthias Menke herausgegebenen „Kapitäne, Konsuln, Kolonisten/Beziehungen zwischen Mecklenburg und Übersee“ erreichte die Bark am 12. April 1850 von Newcastle kommend Rio de Janeiro. Drei Tage später ließ der Kapitän durch den Konsul erst zwei und am folgenden Tag noch einmal zwei Seeleute verhaften. Dieser Bericht lässt mich zu dem Schluss kommen, dass es einem schwachen Kapitän nicht gelang, zwei undisziplinierte Seeleute zur Räson zu bringen, und er sich dafür Hilfe beim Konsul holte. Eine Meuterei sieht anders aus.