Hans-Hermann Diestel

Kapitän in zwei Welten


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Rettungsboote klarmachen

      - Passagiere vorbereiten

      - Zuweisung der Passagiere zu den Booten vornehmen (sie waren vorher nicht einem speziellen Boot zugewiesen worden)

      - weitere Offiziere wecken

      00.15: Kapitän wies Funker an, Notruf zu senden (Phillips sendete zuerst CQD, dann auf Hinweis von Bride SOS). Smith hielt sich meistens auf der Brücke auf.

      00.45: Erste Rakete abgefeuert und erstes Rettungsboot zu Wasser (Besatzung erledigte ihre Aufgaben ruhig und diszipliniert?) 01.40: letzte Rakete abgefeuert

      02.05:

      - Kapitän zum letzten Mal im Funkraum. Er stellte den Funkern frei, sich zu retten. Dann ging er auf das Bootsdeck, um mit Besatzungsmitgliedern zu sprechen.

      - letztes Boot zu Wasser 02.20: Die TITANIC sank.

      Senator William Alden Smith, der Leiter der Untersuchungskommission, kam zu dem Schluss, dass die Befehlskette beim Verlassen des Schiffes weitgehend zusammengebrochen sei und dass die Schiffsleitung gelähmt war. Diese Auffassung ist aufgrund des beim Fieren der Boote herrschenden Chaos verständlich. Trotzdem halte ich sie nicht für gerechtfertigt. Kapitän Smith hatte offensichtlich eine klare Strategie. Er wollte unter allen Umständen eine Panik verhindern, die, da nur für die Hälfte der sich an Bord befindenden Menschen Plätze in den Booten vorhanden waren, katastrophale Auswirkungen auf die Evakuierung des Schiffes haben musste. Dass sein Plan nicht aufging, hatte mehrere Gründe (Passagiere nicht auf die Boote aufgeteilt, zu wenig Seeleute für das Handhaben der Boote, Besatzung neu und nicht auf diese Aufgabe vorbereitet usw.). Wenn die Aktivitäten von Kapitän Smith zum Beispiel mit denen des Kapitäns der COSTA CONCORDIA oder auch mit denen des DSR-Kapitäns der BÖHLEN verglichen werden, dann hat Smith wichtige Entscheidungen zur Rettung der sich an Bord befindenden Menschen getroffen. Nachdem ihm Andrews mitgeteilt hatte, dass das Schiff verloren war, gab er sofort die notwendigen Anweisungen. Ob eine ungeschminkte Information der Besatzung und der Passagiere über die Lage des Schiffes mehr Menschen das Leben gerettet hätte, wage ich nicht zu beurteilen. Die Offiziere dürften ohnehin keine Illusionen über die Lage des Schiffes gehabt haben.

      Wie stellt sich, im Vergleich mit dem Kapitän der TITANIC, die Situation für den Kapitän der COSTA CONCORDIA dar? Folgender zeitlicher Ablauf ergibt sich aus dem Untersuchungsbericht des italienischen Ministeriums für Infrastruktur und Verkehr:

       13. Januar 2012

      - Um 21. 45. 05 Ortszeit lief die COSTA CONCORDIA bei günstigen hydrometeorologischen Bedingungen auf einen Felsen der Insel Giglio.

      - Kapitän Schettino leitete die Untersuchung des Schiffes auf mögliche Schäden – nach 16 Minuten wurde der Kapitän über den Ernst der Lage des Schiffes unterrichtet.

      - Der Kapitän informierte nicht die Rettungsbehörden (Küstenwache usw.). Diese wurden von einer Person, die von Land aus anrief, informiert. Obwohl die Behörden Kontakt mit dem Schiff aufnahmen, informierte er sie erst um 22. 26. 02 Ortszeit. Erst auf Forderung der Behörden in Livorno setzte er um 22.38 einen Notruf ab.

      - Erst um 22. 54. 10 befahl Schettino, das Schiff zu verlassen, ohne dass das Signal für den Generalalarm ausgelöst wurde. Das hätte bei der Lage der COSTA CONCORDIA sehr viel Sinn gemacht. Viele Passagiere sagten aus, dass sie die mittels Sprache gegebene Anweisung nicht gehört hatten. Es gab auch keine direkten Anweisungen an die Offiziere auf den Bootsstationen! Die Geliebte des Kapitäns Domnica Cemortan verließ die Brücke, zog sich in der Kammer des Kapitäns wärmere Kleidung an und brachte Schettino eine blaue Jacke ohne Rangabzeichen. Seine Uniformjacke brachte sie in seine Kammer. Er war dadurch als Kapitän nicht erkennbar (Aussage Cemortan vor Gericht).

      - Um 22.50 und 23.10 Uhr wurden die ersten Boote zu Wasser gelassen.

      - Um 23.20 wurde die Brücke von der Besatzung, einschließlich Kapitän, verlassen.

      - Um 24.00 Uhr erreichte die Schlagseite 40°.

       14. Januar 2012

      - Um 00.34 Uhr sprach der Kapitän mit den Behörden in Livorno und teilte ihnen mit, dass er im Rettungsboot sei. Das Gericht hörte ein aufgenommenes Telefongespräch, in dem der Beamte der Küstenwache Gregorio De Falco ihm wiederholt befahl, auf sein Schiff zurückzugehen. Schettino behauptete in dem Gespräch, dass nur noch 10 Personen an Bord wären. In Wirklichkeit befanden sich noch etwa 300 Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord (Aussage De Falco vor Gericht).

      - Um 06.17 Uhr wurde die erste Phase der Rettung der Passagiere und Seeleute beendet.

      COSTA CONCORDIA vor Giglio, Foto Wikimedia/​Rvongher

      Francesco Schettino befand sich dadurch, dass das Wetter hervorragend war und das Schiff gegen die felsige Küste unmittelbar neben einen kleinen Hafen trieb, in einer idealen Lage, um die sich an Bord befindenden Personen zu retten. Schon nach 16 Minuten war ihm bekannt, dass sich sein Schiff in einer schwierigen Lage befand. Jetzt hätte er sofort den Generalalarm auslösen müssen. Stattdessen ließ er wertvolle Zeit verstreichen, in der sich die Probleme, vor allem durch die sich ständig verstärkende Schlagseite des Schiffes, unablässig vergrößerten. In dieser Situation gab es nichts mehr zu verbergen oder zu vertuschen. Die Chance, sich in einer schwierigen Situation als guter Seemann und als energischer und fähiger Schiffsführer zu zeigen, nutzte der Kapitän nicht. Im Gegenteil, er erwies sich als Feigling und Lügner. Ein solches Etikett kann niemand Edward J. Smith anhängen.

      Diese wenigen Beispiele zeigen, dass in der Schifffahrt bei den Personen in der wichtigsten Funktion große Extreme zu beobachten sind. Der Unterschied zu anderen Berufen ist, dass diese Extreme, weil sie auf großes öffentliches Interesse stoßen, in den Medien mit umfangreicher Berichterstattung bedacht werden. Hat der Kapitän eines von einem Seeunfall betroffenen Schiffes, wie Francesco Schettino, versagt, dann überschreitet die Berichterstattung schnell, bevor Seeämter oder Gerichte zu einem abschließenden Urteil gekommen sind, den gebotenen sachlichen Rahmen. Für richtig halte ich es, dass die Schifffahrtsliteratur sowohl den „Guten“ als auch den „Bösen“ ein Denkmal setzt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch an weitere Kapitäne erinnern, die sich entweder durch hervorragende Seemannschaft und exzellente Leitungstätigkeit oder durch das Versagen in einer von beiden Kategorien hervorgetan haben.

      Beginnen möchte ich mit Robert Hilgendorf, der am 31. Juli 1852 in Schievelhorst bei Stepenitz am Ostufer des Stettiner Haffes geboren wurde und am 4. Februar 1937 in Hamburg starb. Bei dem Ruf, den Hilgendorf nicht nur in Deutschland als außergewöhnlicher Schiffsführer der größten Segelschiffe genoss, ist es erstaunlich, dass so wenig über ihn geschrieben wurde. Als harte Fakten stehen seine Reisen mit ihrer hohen Durchschnittsgeschwindigkeit und ihrer Regelmäßigkeit, ungeachtet dessen, dass die meisten von ihnen um Kap Horn gingen. Ein weiterer harter Fakt ist, dass er von 1883 bis 1898 16 500 Wetterbeobachtungen zur Deutschen Seewarte in Hamburg schickte. Diese intensive Beschäftigung mit dem Wetter ermöglichte ihm, das Wetter „zu lesen“. Ich hätte gern gewusst, wie er navigierte, wie er die Besatzung führte usw.

      Die Angaben dazu sind sehr dünn. Im November 1901 gab er im Alter von nur 49 Jahren die Seefahrt auf. Das Angebot, das Fünfmastvollschiff PREUSSEN als Kapitän zu führen, lehnte er ab. In diesem Punkt war er offensichtlich klüger als Cook.

      Die von Robert Hilgendorf von 1895 bis 1901 geführte Fünfmastbark POTOSI an einer Pier. Fotograf unbekannt - State Library of Victoria, Malcolm Brodie shipping collection, gemeinfrei.

      Er war zu der Auffassung gekommen, dass er für dieses Schiff schon zu alt sei. Eine weise Entscheidung. Zu den Kapitänen, die mir immer besonders imponiert haben, gehört Richard Woodget, der berühmteste aller Befehlshaber des Teeklippers CUTTY SARK. Basil Lubbock, der einige Reisen als Seemann auf Tiefwasserseglern machte, hat ihm in seinem Buch „The