In beiden Fällen ist der Sterbeprozess noch nicht abgeschlossen. Der wirkliche Tod tritt erst ein, wenn nach einer nicht genau definierten Zeit von etwa acht oder auch mehr Minuten nach Eintritt des Herz-/ Kreislauf-Todes der sauerstoffmangelbedingte Hirntod festgestellt ist, oder wenn nach Abstellen der Beatmung bei einem »Hirntoten« nach etwa 30-minütigem Kreislaufstillstand der Partialtod des Herzens eingetreten ist. Darum bezeichnet man den Untergang sämtlicher Organe und Zellverbände, der durch den definitiven Ausfall aller Stoffwechselvorgänge gekennzeichnet wird, als »Totaltod«.59
Während der klinische Tod heute weder aus rechtlicher noch aus medizinischer Sicht als Ende des menschlichen Lebens, als »Tod an sich« gewertet wird, gilt der Partialtod des Gehirns bereits, wie es im Totenschein NRW heißt, als »sicheres Todeszeichen«. Bevor sich der »Hirntod« dort etabliert hat, waren in dieser Rubrik nur Indizien wie Totenstarre, Totenflecke und Fäulnis zu finden. Mit der rechtlichen Sanktionierung des Zugriffs auf »hirntote« Patienten für die Transplantationsmedizin wurde eine Schwelle überschritten, die auf lange Sicht weitere Grundrechtsverletzungen befürchten lässt.
Die Beantwortung der Frage, »Wann ist der Mensch tot«?60 füllt inzwischen zahlreiche Bücher. Denn mit der Entwicklung der Intensivmedizin auf der einen Seite und dem Zugriff auf das »Ersatzteillager Mensch«61 auf der anderen Seite sind Unsicherheiten entstanden, auch im Zusammenhang mit anderen Fragen, wie: Dürfen Ärzte alles, was medizintechnisch machbar ist? Wo liegen die Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht? Wie entscheiden Ärzte in einem Pflichtenkonflikt, wenn sie am Anfang oder Ende des Lebens zu Nutzen oder Lasten eines Menschen oder eines ungeborenen Lebens entscheiden sollen?
In Zeiten explodierender Biotechnologie, -medizin und Reprogenetik stellt sich immer wieder die Frage nach dem Erlaubtsein des Machbaren. Die biologisch-medizinische Grenze der Intensivmedizin ist da erreicht, wo ein schwerkranker Patient zum Sterbenden wird. Das war traditionell der Zeitpunkt für den Rückzug der Ärzte. Diese Grenze ist heute nicht immer zu erkennen, und sie wird, wenn es um die Vernutzung des Sterbenden geht, auch nicht mehr respektiert. Nicht immer zu erkennen ist auch, ob, wann und unter welchen Umständen es Sinn macht, Menschen nach plötzlichem Herzkreislaufstillstand zu reanimieren. Das Resultat verfehlter oder halbherziger Reanimationen sind oftmals »hirntote« Menschen oder Patienten im apallischen Syndrom, sog. Wachkomapatienten.
»Aus einer Leiche geboren«
So titelt Der Spiegel 25/2011 einen Beitrag über die Geschichte des inzwischen 20-jährigen Max Siegel, der von einer hirntoten Mutter geboren wurde. Dass als hirntot geltende Patienten zweifelsfrei keine Leichen sind, zeigen solche Fälle. Hirntote Schwangere können die Schwangerschaft über Monate aufrechterhalten und von gesunden Kindern entbunden werden. Bis 2003 wurden zehn erfolgreiche Schwangerschaften von Hirntoten dokumentiert.
Dennoch legitimiert das Transplantationsgesetz eine Praxis, die erlaubt, dass Patientinnen und Patienten auf einer Intensivstation, sobald der »Hirntod«, festgestellt worden ist, weiter intensivmedizinisch behandelt werden, um schließlich dann nach der Organentnahme den Tod zu finden. Alle Phänomene, die an »Hirntoten« zu beobachten sind, kennen wir nur von Lebenden, keines davon ist bei Toten feststellbar: Herz- und Kreislauffunktionen, Nierenfunktion, Verdauung, Regulierung des Wasser- und Mineralhaushalts, immunologische Reaktionen sowie Atmung auf Zellebene sind erhalten. »Hirntote« weisen Spontanbewegungen auf, hirntote Männer können Erektionen bekommen, sogar einen Samenerguss, sind also zumindest theoretisch fortpflanzungsfähig. Hirntote Frauen sind in der Lage, gesunden Kindern das Leben zu schenken. Dennoch gelten diese Patientinnen und Patienten als Leichen, denen man lebendfrische Organe entnimmt.
Woher wissen wir, dass Patienten hirntod sind?
Ihre Herzen schlagen noch. Sie urinieren. Ihre Körper zersetzen sich nicht, und sie fühlen sich warm an, wenn man sie berührt; ihr Magen knurrt, ihre Wunden heilen, und ihre Eingeweide können Nahrung verarbeiten. Sie können Herzanfälle erleiden, Fieber bekommen und Liegegeschwüre. Sie können erröten und schwitzen – sie können, wie bereits geschildert, Kinder austragen. Und dennoch sind diese Patienten entsprechend der Gesetzeslage in den meisten Ländern und aus Sicht eines Teils der Mediziner unumkehrbar, unstrittig gestorben, obwohl ihr Körper mit ein wenig Glück und viel intensivmedizinischen Unterstützung monatelang überleben kann – oder in seltenen Fällen Jahrzehnte. Wie kann das möglich sein? Warum geschieht das? Und woher wissen die Mediziner, dass sie tatsächlich tot sind?
Colleen Burns kam wieder zu Bewusstsein, als die Mediziner gerade mit der Organentnahme beginnen wollten
Beunruhigenderweise können Alkohol, Anaesthesie, einige Erkrankungen (so wie z.B. Hypothermie) und viele Drogen (dazu gehört auch Valium) die Hirnaktivität herunterfahren und die Ärzte dazu bringen, ihren Patienten für tot zu halten. Im Jahr 2009 wurde Colleen Burns in einem durch Drogen herbeigeführten Koma aufgefunden, und die Ärzte in einer Klinik in New York dachten, sie sei tot. Sie erwachte im OP-Saal einen Tag, bevor die Ärzte die Organentnahme durchführen wollten. (Es ist unwahrscheinlich, dass dieses geschehen wäre, weil ihre Ärzte vor der Operation zusätzliche Untersuchungen vorgesehen hatten.)
Bei einer Überprüfung von 611 Patienten, die für hirntot erklärt worden waren, haben Wissenschaftler bei 23 % Hirnaktivität gefunden. In einer anderen Studie wiesen 4% schlafähnliche Muster von Aktivität von bis zu einer Woche auf, nachdem sie offiziell »gestorben« waren. Andere haben berichtet, dass die Leichen mit schlagendem Herzen sich unter dem Messer des Chirurgen wanden. Wie der Journalist Dick Teresi es zynisch formuliert hat: Sobald das Formular mit der Zustimmung zur Organentnahme unterschrieben wurde, erhalten die toten Patienten die beste medizinische Behandlung ihres Lebens.
HIRNAKTIVITÄT ZEHN MINUTEN NACH EINTRITT DES KLINISCHEN TODES62
Ärzte auf einer Intensivstation in Kanada sind auf einen sehr seltsamen Fall gestoßen – als die lebenserhaltenden Maßnahmen bei vier Patienten im Endstadium abgeschaltet wurden, wies einer von ihnen weiterhin Hirnaktivität auf, sogar nachdem alle vier Patienten für klinisch tot erklärt worden waren.
Nach mehr als 10 Minuten, nachdem die Ärzte den Tod durch eine Reihe von Beobachtungen festgestellt hatten, einschließlich des fehlenden Pulses und nicht ragierender Pupillen, schien der Patient die gleichen Hirnwellen aufzuweisen (delta wave bursts), die wir während des Tiefschlafs zeigen. Und es ist ein vollkommen anderes Phänomen als die plötzliche »Todeswelle«, die bei Ratten beobachtet wurde, nachdem man ihnen den Kopf abgeschnitten hatte.
»Bei einem der Patienten wurden einzelne Deltawellen beobachtet, die trotz des Aufhörens von Herzschlag und Herzrhythmus und arteriellem Blutdruck (ABP) weiterhin auftraten«, berichtet das Team von der »University of Western Ontario« in Kanada.
Sie fanden zudem heraus, dass der Tod für jeden einzelnen Menschen ganz individuell sein könnte, da sie feststellten, dass bei den vier Patienten das EEG, das ihre Hirnaktivität messen sollte, weniger Ähnlichkeiten aufwies sowohl vor als auch nach der Todes-Erklärung. »Es gab einen signifikanten Unterschied bei der EEG-Amplitude zwischen der 30-minütigen Periode davor und der fünfminütigen danach, die auf das Ende von Herzschlag und arteriellem Druck folgten«, erklären die Forscher.
Es ist die Hirnaktivität, nach der wir in diesen Scans suchen, und man kann bei drei der vier Patienten feststellen, dass diese Aktivität allmählich aufhörte, bevor das Herz aufhörte zu schlagen – bis zu 10 Minuten vor dem klinischen Tod. Aber aus irgendeinem Grund weist Patient 4 den Ausstoß von Deltawellen über 10 Minuten und 38 Sekunden nach Herzstillstand auf.
Der große Erkenntnisgewinn aus Studien wie diesen liegt nicht darin, dass wir jetzt mehr über die Erfahrung nach dem Tod verstehen als vorher, weil die Beobachtungen allein unvollständig sind und ohne biologische Erklärung bleiben. Aber was sie zeigen ist, dass wir noch sehr viel mehr herausfinden müssen, wenn es um den Sterbeprozess geht, und wie wir – und andere Lebewesen – ihn zum gegebenen Zeitpunkt erleben, mit dem Körper und dem Gehirn.
Wann endet