Urschitz Josef

Stillstand


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      Offenbar benötigt man hierzulande das alles nicht. Denn es geht uns ja noch gut. Nicht mehr ganz so gut wie noch vor ein paar Jahren, aber es lässt sich noch leben. Was dabei gerne übersehen wird: Wir leben zunehmend auf Pump und von der Vergangenheit – und sind dabei, unsere Zukunft zu verspielen. Das ist keine österreichische Spezialität: Der US-Journalist und Autor Thomas L. Friedman („The World is Flat“) hat Europa schon vor zehn Jahren als „Museum“ bezeichnet, das seinen ganzen politischen Ehrgeiz daran setze, die Vergangenheit zu bewahren – und auf diese Weise dramatisch von den Dynamikzentren der Weltwirtschaft in Amerika und Asien abgehängt werde. Eine Art Jurassic Park voller Polit-Dinosaurier.

      Ein Indiz dafür: Die 20 wichtigsten Unternehmen Europas sind im Prinzip noch immer dieselben wie vor 30 Jahren. Von den damaligen Top 20 der US-Unternehmen findet sich dagegen kein einziges mehr unter den besten 20 im aktuellen Ranking. Friedman meint, das liege nicht zuletzt daran, dass Europa zu viel politischen Ehrgeiz daran setze, die alten Strukturen zu erhalten. Wenn das so ist, dann leben die österreichischen Polit-Dinos im Zentrum dieses Jurassic Park. Wo sonst ist beispielsweise ein Toppolitiker denkbar, der im Brustton der Überzeugung öffentlich als besonderen Vorzug seiner Politik nennt, dass es gelungen sei, mit Milliardensubventionen „den Strukturwandel aufzuhalten“. Wer so viel Rückwärtsgewandtheit nicht für möglich hält, muss sich nur die Presseaussendungen des österreichischen Bauernbund-Präsidenten aus dem Jahr 2016 anschauen. Dass so etwas einfach so, ganz ohne öffentlichen Aufschrei oder zumindest höhnischem Gelächter über die Bühne gehen kann, sagt viel über den Stellenwert des Wandels und der Innovation im Lande aus. Oder, wie es die Tageszeitung „Die Presse“ einmal formulierte: „Dies ist ein Land für Neugebauers, nicht für Zuckerbergs.“ Für alle, die ihn nicht mehr kennen: Herr Neugebauer hatte sich zu seiner aktiven Zeit als oberster Beamtengewerkschafter den Ruf als begnadetster „Betonierer“ des Landes erworben.

       Dramatischer Vertrauensverlust

      Die Rückwärtsgewandtheit beschränkt sich aber keineswegs auf die traditionell extrem strukturkonservative Agrarpolitik. Sie ist auch zum Markenzeichen der österreichischen Wirtschaftspolitik geworden. Wobei: Rückwärtsgewandtheit ist vielleicht nicht der ganz richtige Ausdruck. Bewegungsunwilligkeit trifft es schon eher. Oder, noch besser: Reformunfähigkeit. Denn der Schlüssel zur Beendigung des Stillstands liegt in der Erneuerung durch Reformen, die das Land wieder nach vorne bringen können.

      Das ist keine neue Erkenntnis. Seit gut dreißig Jahren schieben Regierungen Reformen vor sich her. Jeder weiß, dass kein Weg daran vorbeiführt, die Konzepte sind seit Langem fertig ausgearbeitet, aber sie werden nicht umgesetzt. Aus Angst, Wahlen zu verlieren, vielleicht. Oder aus der Unmöglichkeit, die bremsenden Betonstrukturen der heimischen Politik – von einem missglückten Föderalismus bis hin zu den zu Bremsklötzen mutierten Sozialpartnern – aufzubrechen. Vielleicht ist es aber auch nur ein Zeichen des Niedergangs der traditionellen sozialdemokratischen und konservativen Parteien, deren Rezepte aus dem vorigen Jahrtausend stammen, die aber immer noch die Regierung stellen. Möglicherweise ist es auch die Angst vor den Wählern, die einschneidende Veränderungen gewöhnlich mit der Abwahl der Veränderer bestrafen. Davor müssen sich die Regierenden genau genommen aber nicht mehr fürchten. Denn der reformstaubedingte Wohlstandsverlust bedroht ihre Position so oder so.

      Die Lage ist schon ziemlich vertrackt: Gegen Ende des Jahres 2016 hat ein Meinungsforschungsinstitut erhoben, welche Worte die Österreicher aus Politikermund nicht mehr hören wollen. Ganz oben in der Liste findet sich das Wort „Reform“. Wohl deshalb, weil sie es bei Sonntagsreden ständig vorgetragen bekommen, aber seit Jahrzehnten vergeblich auf die Umsetzung warten. Das nervt auf Dauer. Wer also jetzt als Reformator auftritt, muss ein schwieriges Dilemma lösen: Er muss Reformen umsetzen, deren bloße Erwähnung den Betroffenen schon Unbehagen bereitet. Dabei fühlen die Menschen nicht nur intuitiv, dass es so nicht weitergehen kann. Die Probleme sind ja nicht nur „gefühlt“, wie man ihnen das einzureden versucht, sondern ganz real. Dass beispielsweise ihre Arbeitsplätze immer unsicherer werden und die Politik keine Antwort auf die Entwicklung parat hat, bilden sie sich ja nicht nur ein. Dass der Reformdruck aus der Bevölkerung trotzdem noch nicht stark genug ist, liegt vielleicht daran, dass das Bewusstsein für Zusammenhänge noch fehlt. Zum Beispiel dafür, dass der Wohlstand schon lange nur noch durch immer stärker wachsende Staatsschulden aufrechtzuerhalten ist.

      Das in der Bevölkerung nicht ganz unberechtigterweise stärker werdende Gefühl, dass ihr Wohlstand bedroht ist und dass sie dabei von der herrschenden Politik alleingelassen wird, führt zu einem dramatischen Vertrauensverlust in die Politik und – nicht nur in Österreich – zu enormem Zulauf zu populistischeren Parteien und Bewegungen. Die Menschen haben den Eindruck, dass ihnen die traditionellen Parteien kein Angebot mehr zu machen haben, und laufen ihnen konsequenterweise in Scharen davon. Wie stark der Vertrauensverlust schon ist, zeigen Umfragen. In Österreich stimmen unterdessen bereits fast zwei Drittel der Wahlberechtigten der Aussage zu, Parteien seien mehr am Machterhalt als am Wohl des Bürgers interessiert. Fast ebenso viele meinen, die Politikverdrossenheit nehme zu, weil Politiker nicht mehr ehrlich und zuverlässig seien. Mehr als die Hälfte sieht in Politikern kein Vorbild mehr. Ein inferiores Bild, welches das „Institut für Freizeit und Tourismusforschung“ da in einer repräsentativen Umfrage erhoben hatte.

      Eines, das beispielsweise Journalisten hautnah miterleben, wenn sie anhand der Leserreaktionen sehen, wie sehr die Stimmung im Laufe der letzten Jahre in den Keller gegangen ist, wie sehr es unter der Decke brodelt, wie groß die Wut auf „die da oben“ geworden ist. Die Stimmung, die im Norden Europas rechtspopulistische und im Süden linkspopulistische Bewegungen an die Schwelle der Macht gebracht hat, lässt sich am besten mit „Alles ist besser als der derzeitige Zustand“ beschreiben. Eine demokratiepolitisch höchst gefährliche Stimmung, die unseren Wohlstand wohl ebenso gefährdet wie der herrschende Reformstillstand. Aber selbst diese katastrophal schlechte Stimmung wird von der Politik, die sich schon meilenweit von der Bevölkerung entfernt hat, missverstanden und missdeutet. Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern hat das kurz nach seinem Amtsantritt im Frühsommer 2016 sehr schön demonstriert, als er erklärte, die größte Wachstumsbremse im Land sei die herrschende schlechte Laune.

      Ein klassischer Fall von Verwechslung von Ursache und Wirkung: Die Wirtschaft wächst nicht so langsam, weil die Stimmung so schlecht ist, sondern die Stimmung ist so miserabel, weil seit vielen Jahren nichts mehr weitergeht, weil jegliches Wirtschaften durch die erbärmliche Performance der Stillstandsregierungen der vergangenen Jahre abgebremst wird. Mit bloßer Stimmungsaufhellung per gehobenem Politentertainment ist da nichts mehr zu machen. Um das herauszufinden, muss man sich freilich ein wenig außerhalb der Politblase bewegen. Dort sieht man:

       Die Arbeitnehmer sind beträchtlich verstimmt, weil sie bemerken, dass ihre reale Kaufkraft trotz jährlicher Lohnerhöhungen seit vielen Jahren abnimmt und dass dieser Kaufkraftverlust nicht nur „gefühlt“ ist, sondern ganz real. Sie erkennen auch in zunehmendem Maße, dass an diesen Kaufkraftverlusten vor allem die öffentliche Hand (also der von der Politik direkt beeinflusste Bereich) mit ihren Steuer- und Abgabenorgien schuld ist.

       Die Arbeitnehmer, vor allem jene, die schlecht bezahlte Jobs auf niedrigen Qualifikationsstufen haben und/​oder in prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind, bemerken auch als Erste, dass die durch Politikversagen ausgelöste ungeregelte Zuwanderung der Jahre 2015/​2016 ihr soziales Gefüge und – im unteren Segment – auch ihre Arbeitsplätze bedroht. Und reagieren entsprechend sauer, wenn ihnen Politiker einzureden versuchen, dass damit das Überalterungsproblem der heimischen Wirtschaft gelöst werde, oder wenn ihnen politiknahe „Experten“ vorfantasieren, dass ihnen die ungeregelte Zuwanderung von Leuten, denen die für eine Industriegesellschaft notwendigen Basisqualifikationen fehlen, einen Wirtschaftsaufschwung mit Traumrenditen bescheren wird.

       Die klein- und mittelständischen Unternehmer werden mieselsüchtig, weil sie das nicht unberechtigte Gefühl haben, dass sie mit der Registrierkasse verfolgt und mit der Steuerkeule geprügelt werden, während die Finanz seelenruhig zusieht, wie es sich die Großen in ihren Steueroasen bequem richten können.

       Die Industriellen wiederum