noch nicht wirklich weh.
Zumal Österreich ja Umverteilungs-Vizeweltmeister ist und damit individuelle Stillstandsverlierer relativ gut abfedert. Deshalb geht eine bedenkliche Entwicklung in der Öffentlichkeit ziemlich unter: Österreich wurde, wie schon erwähnt, in den vergangenen Jahren in internationalen Standortrankings in atemberaubendem Tempo nach unten durchgereicht. 2016 hat es zwar eine kleine Atempause gegeben. Da hat sich das Land im Ranking des „World Economic Forum“ leicht vom 23. auf den 19. Platz vorgearbeitet und in der Rangliste der renommierten Schweizer Wirtschaftshochschule IMD von Platz 26 auf Platz 24 verbessert. Aber: 2010 war das Land von IMD in Sachen Wettbewerbsfähigkeit noch auf Platz 14 eingestuft worden. Da liegen schon Welten dazwischen. Und: Vergleichbare europäische Länder liegen unter den Top Ten. Rang 24 bei der Wettbewerbsfähigkeit entspricht jedenfalls keineswegs dem Status des Landes als Mitglied der Spitzengruppe der Industrieländer. Wenn wir so weitermachen, wird dieser Status also bald Geschichte sein.
Besonders schlecht liegen wir in allen Rankings in den Bereichen „Regierung“, „Verwaltung“ und „Fiskalpolitik“. Was genau genommen kein Wunder ist: Österreich ist nämlich, das steht fest, ein sehr gut verwaltetes Land. Aber auch ein sehr heftig verwaltetes. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße haben wir fast doppelt so viele Verwaltungsbeamte wie die Schweiz und um gut 50 Prozent mehr als Deutschland. Beides Länder, denen man nicht nachsagen kann, schlecht verwaltet zu werden. Im Prinzip haben wir nach dem Fall der k. u. k. Monarchie die Verwaltungsstrukturen einer Großmacht in einen Kleinstaat herübergerettet.
Bürokratien tendieren dazu, ein Eigenleben zu entwickeln. Je größer, umso mehr. Das wird von so gut wie allen Unternehmen als einer der größeren Hemmschuhe für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen. Eine umfassende Aufgabenreform der Verwaltung ist ebenso wie ein umfassender Umbau des heimischen Föderalismus eine der Grundvoraussetzungen, um mit der Therapie der Austrosklerose überhaupt erst beginnen zu können.
Ist Österreich „abgesandelt“?
Das sehen interessanterweise auch viele der Spitzenproponenten der sklerotischen Organisationen so. Der Präsident der Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, hatte etwa 2015 beim „Europäischen Forum Alpbach“ für Schlagzeilen gesorgt, als er Österreich als „abgesandelt“ bezeichnet hatte. Ein paar Monate später legte der oberste Wirtschaftskämmerer in einem Interview mit der „Tiroler Tageszeitung“ noch einmal ein kräftiges Schäuferl nach, als er der Regierung ausrichtete, sie „verwurstle“ gerade die Zukunft. Leitl damals: Er wolle sich später nicht nachsagen lassen, vor Fehlentwicklungen nicht eindringlich genug gewarnt zu haben. Man kann also nicht sagen, das Problem sei in den Chefetagen nicht bewusst. Aber wenn es darauf ankommt, sind eben die Beharrungskräfte in den Institutionen stärker. Man hat das sehr schön bei der missglückten Reform der zu zwangsjackenhaft angelegten Gewerbeordnung im Herbst 2016 gesehen. Bundeskanzler Christian Kern von der SPÖ hatte sich eine Reduzierung der gebundenen Gewerbe von 80 auf 40 vorgestellt. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner von der ÖVP – vor seiner Regierungstätigkeit selbst Mitglied der Chefetage der Wirtschaftskammer – hatte eine Reduktion der zahlreichen Nebengewerbe auf einen einzigen Gewerbeschein im Sinn. Nach umfassenden Verhandlungen mit den Sozialpartnern, die von Vertretern der Regierungsparteien dominiert werden, lag die Zahl der gebundenen Gewerbe um eines höher als zuvor. Und ein, sagen wir, Hotelier, der auch Frühstück anbietet, Ausflüge organisiert und seine Gäste mit dem Auto vom Bahnhof abholt, benötigt weiter einen ganzen Schüppel an Gewerbescheinen – und muss entsprechend häufig Kammerumlage bezahlen. Ohne jetzt auf Sinn oder Unsinn der gewerblichen Zunftstrukturen einzugehen: Hier hat die Regierung vor den Institutionen einen vollen Bauchfleck hingelegt. Austrosklerose, wie sie leibt und lebt.
Diese Erstarrung ist natürlich auch international nicht unbeobachtet geblieben. Die Industriestaaten-Organisation OECD beispielsweise hat Österreich in ihrem jüngsten Länderbericht ordentlich die Leviten gelesen. Auch was die Gewerberegulierung betrifft. Zu starre Strukturen und zu strenge Regulierung würden Wettbewerb behindern, die Wirtschaft bremsen, die Inflation hochtreiben und die Kostenposition des Landes verschlechtern. Das gelte besonders für unternehmensnahe Dienstleistungen wie etwa IT-Services. Hier bedroht zu strenge Regulierung die Zukunftsfähigkeit des Landes.
Wie das im Endeffekt aussehen kann, zeigt ein ausreichend abschreckendes Beispiel in unmittelbarer Nachbarschaft: Italien hat die institutionelle Sklerose schon früher als Österreich unbehandelt eskalieren lassen. Die Folgen waren ein äußert anämisches Wirtschaftswachstum, extrem hohe Staatsverschuldung, der Niedergang der Industrie in Norditalien. Heute zittert ganz Europa vor einem Italien-Crash, der die gesamte Eurozone mitreißen könnte. Reformen gibt es noch immer nicht. Ein abschreckendes Beispiel, das uns krass vor Augen führt, dass Reformunlust der gerade Weg in den drohenden Staatsbankrott ist. So weit sollten wir es hierzulande nicht kommen lassen.
Diagnose II
GEFANGEN IM REFORMSTAU
Hauptursache für die massive Austrosklerose sind aufgeschobene Reformen. Ihre Notwendigkeit wird von niemandem bestritten. Aber sie werden nicht umgesetzt.
Man kennt das von Hochwasserkatastrophen: An einer Engstelle verklaust sich Treibgut, der Fluss beginnt, sich aufzustauen. Wenn die Verklausung nicht schnell aufgelöst wird, bildet sich ein Stausee. Je höher dieser ansteigt, umso größer wird die Gefahr für die darunterliegenden Gebiete im Fall des Durchbruchs. Und brechen wird der Damm, wenn der Druck zu groß wird, jedenfalls. Der Verklausung des österreichischen Reformflusses ist bereits Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts passiert. Nach dem Ende der Regierungszeit des Sozialdemokraten Bruno Kreisky (der eine umfassende Öffnung der österreichischen Gesellschaft geschafft hatte, in Wirtschaftsdingen aber eher etatistisch agierte) stellten österreichische Regierungen von Reform- und Zukunfts- auf Verwaltungsmodus um. Es war schließlich bequemer, erkennbare politische und wirtschaftliche Baustellen mit Schuldenmachen zuzudecken, als die vermeintlich wohlerworbenen Rechte der eigenen Klientel anzutasten.
Natürlich war der Damm nicht gänzlich dicht: Immer wieder gab es kleinere Reförmchen und Anpassungen. Manchmal sogar recht erfolgreich, denn um die Jahrtausendwende galt Österreich wirtschaftlich in Europa als Vorzeigeland. Und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends hatte man den Eindruck, dass sich der konservative Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sogar ernsthaft daranmachte, den Reform-Stausee kontrolliert abzulassen. Schüssels Pech war wohl, dass seine Koalitionskumpels von der FPÖ beziehungsweise vom BZÖ mehr den Futtertrog und die eigene Befindlichkeit im Auge hatten als Reformen. Mit einem Regierungspartner, dessen Umfeld heute, mehr als zehn Jahre später, noch immer die Korruptionsstaatsanwaltschaft und die Gerichte beschäftigt und dessen Minister hauptsächlich durch intelligenzbefreite Maßnahmen à la „Busspurenbenützung für Regierungsmitglieder“ oder „Blaulicht für Minister-Dienstfahrzeuge“ in Erinnerung geblieben sind, war eben kein Staat zu machen. Schon gar kein Reform-Staat.
Nur: Seit dem Ende der Ära Schüssel geht gar nichts mehr. Es sind zwar schon mehrere rot-schwarze „Reformpartnerschaften“ ausgerufen worden, von Bundeskanzler Christian Kern sogar ein „New Deal“ und ein „Plan A“, auf einschlägige Aktivitäten warten wir aber noch immer. Den Hauptgrund dafür haben wir im vorigen Kapitel schon abgehandelt: Austrosklerose, institutionelle Verhärtung, hervorgerufen durch eine unglückliche Staatskonstruktion und einen völlig aus den Fugen geratenen Föderalismus. Kurzum: Länder und Sozialpartner halten sich eine Bundesregierung. Die kann vieles tun, aber sicher nicht gegen die Kerninteressen ihrer „Herren“ verstoßen. Bei neun Bundesländern und vier großen Sozialpartnern kommen da eben viele „Herren“ zusammen.
Die Macht liegt bei Lobbygruppen
Man kann ruhig sagen, dass das ganze politische System nicht mehr zeitgemäß ist und nicht mehr zu einer Demokratie im 21. Jahrhundert passt. Das fängt bei der Wahl zum Nationalrat an: Wir haben ein Listenwahlrecht. Der Wähler wählt also nicht Abgeordnete, sondern Parteien. Wer an wählbarer Stelle steht, wird von einem kleinen Kreis innerhalb der Parteien