Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung


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»gleich von vornherein in die geschichtliche Entwicklung [eintreten]«. Marx und Engels, aus deren gemeinsamer Gründungsschrift der materialistischen Geschichtsauffassung diese Formulierung stammt, haben als solche »Seiten der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse« fünf gleichursprüngliche Momente skizziert: 1. die »Produktion des materiellen Lebens selbst«, einschließlich der Lebensmittel; 2. die »Erzeugung neuer Bedürfnisse«; 3. die Familie, »im Anfange das einzige soziale Verhältnis«, später ein untergeordnetes;37 4. die Tatsache, »dass eine bestimmte Produktionsweise […] stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens […] vereinigt ist«; 5. Bewusstsein, aber »nicht von vornherein als ›reines‹ Bewusstsein«, sondern »mit Materie ›behaftet‹ […], die hier in der Form von […] Tönen, kurz der Sprache auftritt« (DI, 3/28-30). In den Gründungsschriften der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1973; Holzkamp-Osterkamp 1975 u. 1976; Schurig 1975 u. 1976) ist diese Skizze später, auf der Spur der Kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, im Material der in den 1970er Jahren verfügbaren biologischen und psychologischen Forschungen präzisiert und wissenschaftlich konsolidiert worden.

      In derselben, durch unsere körperliche Organisation bedingten gattungsspezifischen Freiheit von Festlegungen38 wie diese fünf provisorisch skizzierten weiterwirkenden ursprünglichen Momente des Menschseins entspringt nach unserer Annahme das Kulturelle. Auf zugleich offene und umfassende Weise sind wir einzig auf den geschichtlichen Produktionsprozess des menschlichen Wesens festgelegt, auf Basis sprachlich vermittelter gesellschaftlicher Arbeit.39 Wo Nahrungsgewinnung, die zur Gewinnung verlangten Werkzeuge, die Aufzucht der Kinder, die Art der Unterkunft und das Wie des Zusammenlebens weder instinktiv noch in der körperlichen Organausstattung festgelegt sind, steht jegliches Wie und Was zur Entscheidung und damit zur Unterscheidung an. Wie alles Instrumentelle als ›zweckmäßig‹ in Zielrichtung liegt, so ›spielt‹ überall ein Moment jener ersten und letzten Zweckmäßigkeit aller bloßen Mittel, eben des Selbstzweckhandelns mit, das wir als den Sinn der kulturellen Unterscheidung gefasst haben. Das Kulturelle in diesem ›mitspielenden‹ Sinn kann daher keine eigene »Seite« neben den fünf genannten sein, sondern muss als Moment in jedem der fünf Momente oder als mehr oder weniger hervortretender Aspekt aller anderen Seiten gedacht werden.40 Auf jeden Fall müssen wir das kulturelle Moment als gleichursprünglich mit dem Menschsein annehmen, auch wenn die kategoriale Institutionalisierung von ›Kultur‹ erst eine Spätgründung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist. Obwohl also seit Urzeiten in der Vorgeschichte der Kultur wirksam, ist das kulturelle Moment wie die anderen Grundbestimmungen dennoch nicht gewesene, sondern fortwesende Geschichte als ein allgegenwärtiges Moment menschlicher Lebenspraxis.

      Durch seine ›Winzigkeit‹ und Flüchtigkeit im Vergleich zur überwältigenden Dominanz der geronnenen Verhältnisse und Gewohnheiten bleibt dieses kulturschöpferische Moment zumeist verborgen. In ihm erfindet sich die menschliche Gattung in jedem Individuum fortwährend neu, auch wenn nur das Wenigste davon ins Sozialerbe Eingang findet und damit Dauer gewinnt. In diesem flüchtigen Element ankert unsere Untersuchung. Selbst in entfremdeten Verhältnissen wirkt es und geht als Moment der Selbstbejahung in jenem Amalgam aus Verhältnissen und Verlangen nicht völlig auf. Es mag auf einen Differenzialwert schrumpfen. Solang es indes größer als Null ist, kann (und muss) man mit ihm rechnen, wie man mit der Glut in der Asche rechnet, um das Feuer der Tätigkeit erneut anzufachen. Auch wenn es im Moment der kulturellen Unterscheidung nur aufblitzt, also keine nennenswerte Ausdehnung auf der Zeitachse hat, verlangt das Kulturelle nach seiner eigenen Zeit. Sie zeichnet sich aus durch Langsamkeit und Wiederholung, wie die verleugnete Mutter aller Kultur, die Agrikultur, auf die wir im folgenden Kapitel zu sprechen kommen.41

      Nach diesem Moment zu fragen heißt, die Keimform positiver Diskriminierung hervorzuheben. Diese entspringt dem zunächst spontanen Vorzugsverhalten42 und entspricht der Vorliebe, indes nicht der gewohnheitsmäßig geronnenen, sondern der Vorliebe im flüssigen Zustand. Diese hat das Angestrebte noch vor sich. Sie ist ebenso verwandt mit der Selbstliebe wie unterschieden von ihr. Denn auch das Selbst ist für sie noch nicht heraus. Sie west in dem von Ernst Bloch in die berühmte Formel gegossenen Sachverhalt: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (1963, 11) Darin beruht die Nähe des Kulturellen zu dem, was bei Thomas Metscher noch einmal emphatisch als »menschliche Selbstproduktion« (2010, 49) gefasst ist und was, auf die Individuen bezogen, »Selbstverwirklichung« genannt zu werden pflegt. Und wie bei dieser ist die Kreuzung des Wer-Seins mit dem Wir-Sein der wunde Punkt. Denn das Selbst verwirklicht sich nur, indem es aus sich herausgeht. Anders findet es keine Wirklichkeit. Der Selbstzweck treibt über den aufs eigene Selbst beschränkten Zweck hinaus.43 Er muss nach Handlungsfähigkeit streben, und diese ist nur sozial zu verwirklichen. Antonio Gramsci erkennt daher in dem Verlangen, »Führer seiner selbst zu sein«, die keimförmige Zielstrebigkeit hin zu geschichtlicher Handlungsfähigkeit: Die spontan »bizarr zusammengesetzte« Mentalität erlangt die mögliche Kohärenz nur im Einklang mit anderen, also tendenziell in dem, was ihm als hegemoniefähiger Entwurf vorschwebt, in dem die Selbst- und Weltverhältnisse einer großen Anzahl von Menschen in Übereinstimmung gebracht sind.44 Das ›Hegemoniegesetz‹ des Politischen und das ›Sinngesetz‹ des Kulturellen greifen an dieser Nahtstelle ineinander.

      Während Bourdieu mit dem Begriff der distinction die bürgerliche Geltungskonkurrenz analysiert, in der die Individuen sich selbst, die Sache instrumentalisierend, von anderen unterscheiden, interessieren wir uns dafür, wie sie in der Sache unterscheiden und womöglich die Anderen einbeziehen. Das mag wie ein feiner Unterschied aussehen und ist doch einer ums Ganze. Denn die Sache selbst, das sind die gegenständlich tätigen Menschen in ihrer geschichtlichen Selbstwerdung. Aus dieser Bewandtnis ist ein Begriff der kulturellen Praxis zu entwickeln, der geeignet ist, ihr ein Licht aufzustecken.

      Von der Kultur das Kulturelle als ihr Vorgängiges zu unterscheiden, macht die ontisch-ontologische Differenz auf diesem Felde aus. Auf die Quelle zurückzugehen, aus der die Kultur entspringt, läuft nun freilich nicht auf eine retrograde Utopie jenes Typus hinaus, den Marx am Beispiel der Historischen Rechtsschule als das absurde Rezept verlacht hat, »dem Schiffer [anzumuten], nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu fahren«.45 Unser Rückgang auf den Quellpunkt der kulturellen Unterscheidung nimmt Anlauf zu einer kritischen Theorie des Kulturellen, indem es auf dessen konstituierende Macht im Verhältnis zur konstituierten Kultur abhebt und dem im Motto zu diesem Kapitel zitierten Streben des Peter Weiss nach einer »Kultur (Kunst), die uns ein Mittel sei, uns selbst gegenüber der Politik zu verwirklichen«, einen theoretischen Ausdruck gibt. Denn das Resultat des Übergangs von der kulturellen Unterscheidung zur Kultur, deren in vielen Schritten vollzogenem Gründungsprozess, ist eine sanktionierte Ordnung wie sie als »Politik« in der Notiz von Weiss auftaucht. Für sie gilt, was Freud von jeder Ordnung sagt: Sie »ist eine Art Wiederholungszwang, die durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, sodass man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart« (Unbehagen, 224). Wie die elementaren Überlebensbedingungen schränkt auch sie die Wahlmöglichkeiten ein.46 Gegen sie bleibt Kants ethisches Kriterium virulent, dass sie die Form der Allgemeinheit anstreben muss, und Adornos Einspruch, dass diese Allgemeinheit, solange sie »unversöhnt ist mit dem Besonderen« (GS 8, 128), das Kulturelle an ihr erstickt. Kritische Kulturtheorie, die von der kulturellen Unterscheidung ausgeht, ist daher gehalten, eine Unterscheidung in Bezug auf das Machen von Unterschieden zu treffen. Ihr Begriff der kulturellen Unterscheidung wird auch diese nicht unkritisch aufnehmen. Dennoch, wissend um den Widerspruch, sucht sie die Kriterien, nach denen sie unterscheidet, immanent zu entwickeln. Sie setzt keine ›Werte‹ und dergleichen ideologische Größen voraus, um sie ans Material heranzutragen, sondern hellt als Manöverkritik des Daseins die von diesem vorgenommenen Wertungen auf.47 Dialektisch ist sie, indem sie das Gewordene im Flusse seiner Bewegung fasst und aus seinen inneren Gegensätzen auf die Tendenz seines Werdens schließt. Das macht sie zur Geburtshelferin emanzipatorischer Praxis.

      Stuart Hall, der die Kultur als »das Gebiet der Umwege, des Indirekten«, ja als Gründung des Imaginären48 ansieht, hält Distanz zum umweglos direkten, »sehr explosiven, keine Grenzen kennenden Wesen der Lust«;49 zumindest »als politische Kategorie ist Lust sehr irreführend« (2008, 485).50 Das Lustprinzip kann jeden Antagonismus durchqueren,