mit der die jungen Marx und Engels einst auf dem vom Deutschen Idealismus geprägten Feld63 aufgetreten sind: »Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.« (DI, 3/21). »Materiell« meint hier ›stofflich-physisch‹ nicht im dinglichen Sinn, sondern im dynamischen Sinn des »Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur«, durch den die Arbeit als »Bildnerin von Gebrauchswerten« und damit »von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen«, das menschliche Leben »vermittelt«, wie es später im Kapital heißt (23/57). ›Stofflich‹ ist im Begriff des Stoffwechsels also eher ›physiologisch‹ im Sinne der notwendigen Lebensmittel (im weiten Sinn aller Mittel zum Leben) und ihrer tätigen Gewinnung aus Naturstoff zu verstehen. Das hier gemeinte ›Materielle‹ ist daher, weil es die Arbeit als produktiven Stoffwechsel prominent enthält, dem ›Mentalen‹ nicht nur nicht entgegengesetzt, sondern impliziert es als humanspezifische Notwendigkeit. Zudem wird Marx im Ansatz darauf achten, dass die imaginären und symbolischen Dimensionen in die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bestimmten Gebrauchswerte eingeschlossen sind: »Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache.« (23/49)
Die produktivistische Note, die jener rhetorische Eröffnungszug der beiden enthusiastischen Gründer eines »neuen Materialismus« (Marx, ThF 10, 3/7) trägt, wird von ihnen unverzüglich korrigiert im Sinne jener »ursprünglichen […] Verhältnisse«, die »vom Anbeginn der Geschichte an […] zugleich existiert haben und sich noch heute […] geltend machen«, die wir im vorhergehenden Kapitel behandelt haben. Neben der Güterproduktion und der durch sie bedingten Bedürfnisentwicklung fungieren hier gleich ursprünglich Familie, Sprache und Bewusstsein. Nach diesen Strukturmomenten menschlicher Existenz im Sinne einer allgemeinhistorischen Anthropologie64 werden nacheinander die auf jener Grundlage sich historisch in Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und Staat ausfaltenden weiteren gesellschaftlichen Verhältnisse eingeführt. Wie wir gesehen haben, werden damit zugleich die Bildungsbedingungen von »›reiner‹ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc.« (31) in Gestalt der »Teilung der materiellen und geistigen Arbeit« (31) aufgewiesen, wobei Marx dem Recht einen eigenen Zusatz widmet (539).
Unter den Nachfolgern ist vor allem Antonio Gramsci an der Schwelle der 1930er Jahre dem Zusammenhang von Produktionsweise und Lebensweise in die Verästelungen der Alltagskultur und des Alltagsverstands, aber auch der Moral, Religion, Kunst, Philosophie nachgegangen. Das machte ihn zum postumen Inspirator der Kulturstudien am CCCS Birmingham. Für Stuart Hall, dessen langjährigen Leiter, waren »von einem bestimmten Moment an« die Fragen, denen er sich zuwenden wollte, »nur noch über einen Umweg über Gramsci zugänglich« (1990, AS 3, 40). Hall beschreibt seine Auseinandersetzung mit und um Marx angesichts der »Dinge, über die Marx nicht sprach oder die er nicht zu verstehen schien und die unsere bevorzugten Untersuchungsobjekte waren: Kultur, Ideologie, Sprache, das Symbolische« in Anspielung an Genesis 32 als ein »Ringen mit den Engeln« (1990, AS 3, 38f). Es war kein Eintritt in eine ›Theoriepartei‹, sondern eine höchst eigenständige Untersuchung des Kulturellen, allerdings »in Hörweite des Marxismus« (38).
Was nicht als Cultural Studies, sondern unter dem Namen »materielle Kultur« auftritt, ist ein breites und heterogenes Spektrum von Forschungsrichtungen. Es reicht von V. Gordon Childe, der als »notable exception« unter den westlichen Archäologen Kenntnis hatte von der »explicitly Marxist archaeology developed in the Soviet Union in the 1920s and 1930s« (McGuire 2008, 77) und selbst in den Bahnen des objektivistischen Marxismus jener Epoche dachte, bis hin zu Studien über Werbungs- und Warenkonsum, deren affirmativer Ansatz sie als Beiträge zur Markforschung durchgehen lassen könnte. Zwischen diesen Extremen finden sich entnannte und ihres kritischen Impulses beraubte Ausläufer des Marxismus, die mit Konzepten der Alltagsforschung, des Strukturalismus und anderer momentan einflussreicher Strömungen verschmolzen und dem Mainstream einverleibt worden sind.65
Nimmt man das Kriterium der jungen Marx und Engels im engsten Wortsinn, dem zufolge unsere Vorfahren aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld die Schwelle überschritten hätten, sobald sie anfingen, »ihre Lebensmittel zu produzieren«, ist es weniger als die halbe Wahrheit und muss präzisiert werden. Nicht die Lebensmittelproduktion bezeichnet den anthropogenetischen Ausgangspunkt. »Es ist innerhalb der anthropologischen Forschung unbezweifelt: Das zentrale Merkmal, das den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist seine Fähigkeit zur systematischen Werkzeugherstellung« (Holzkamp 1973, Schriften IV, 108). Animal laborans, homo faber, tool making animal – in solchen und ähnlichen Formeln hatte sich diese Einsicht schon lange vor Marx niedergeschlagen. Und doch waltet in den philosophischen Selbstauslegungen seit dem klassischen Altertum ein merkwürdiger Bann über der bei Hesiod noch hochgehaltenen anthropologischen Fundamentalbedingung produktiver Arbeit.66 Mitsamt ihrem Material, dem Naturstoff, und den namenlosen Arbeitenden fand sie sich in die niedrigen Regionen verwiesen oder mit Schweigen übergangen. Geschichte war die der Könige und anderer Großer Männer und Kultur die des Geistes und seiner Künste. Hier haken Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters von 1935 ein:
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
[…]
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Die Welt der Bauleute und des Kochs, des Wohnens und Essens und aller anderen, aber auch der einfachen Soldaten und ihrer Familien, ihre dingliche Ausstattung und die Weisen des Gebrauchs, den sie davon machten, die konkrete Wechselwirkung von Produktionsweise und Lebensweise – wird das und vieles mehr von dieser Art unter der Rubrik »materielle Kultur« verhandelt? Wie wird es verhandelt? Warum unter dieser Denomination? Was ist mit der ›nicht-materiellen Kultur‹, die der Name der ›materiellen‹ als sein sinngebendes Gegenteil stillschweigend mit sich führt und ohne die er seine differentia specifica verlöre? Zuerst vergewissern wir uns der Bedeutung unserer beiden Titelkomponenten, des Materiellen und des Kulturellen.
2. Kultur und Kulturen
Das lateinische Wort cultura leitet sich ebenso wie der cultus von colere her. Im gestaffelten Wortsinn von colere zeigt sich eine genetische Spur: der Primärsinn ist »bebauen« und »bestellen« (des Feldes); am bebauten Boden hängt die Siedlung und damit das Be/Wohnen; hieran das Pflegen und dessen Hochschätzung, die in der Verehrung gipfelt. »Kultur« leitet sich von der Agrikultur her. In der Tat basiert seit der neolithischen Revolution alle Kultur auf dieser. Mit ihrem Mehrprodukt erzeugt die Landwirtschaft ihren Gegensatz in Gestalt des Tempels und der Stadt, wo infrastrukturelle Maßnahmen geplant und geleitet und mit den abstrakteren Fähigkeiten und der Schrift die ideologischen Sanktionierungsformen der bestehenden Verhältnisse ausgebildet und gepflegt werden. Nicht zuletzt wird der militärische Zwangsapparat dort seinen Sitz nehmen. Die Stadt wird zum Ort des Staates. In der Stadt als dem Ort des Gewerbes und des Handels, des Kultes und der Künste, der Verwaltung und der Rechtsprechung bildet sich obendrein das Archiv des gesammelten und verallgemeinerten Wissens.
Die semantische Schichtung, die in den modernen westlichen Sprachen mit dem Wort ›Kultur‹ assoziiert ist, trägt noch immer die Spur dieses genetischen Zusammenhangs. Das semantische Feld hebt mit dem landwirtschaftlich-produktiven Sinn an, wird dann auf die cultura animi (Plutarch) übertragen und gipfelt in der geistigen Bildung. Das Wort bleibt, doch was es – zunächst metaphorisch, dann terminologisch – meint, ›Kultur‹, ist seit dem Altertum seinem Ursprung entfremdet. Der Sinn des lateinischen rusticus reicht von »ländlich« über »schlicht«