der Ökonomie zu halten, ist freilich nicht besser.
Brecht, Dichter der »Weltänderer«, holt die Perspektive zurück auf den Boden der Wirklichkeit. »Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten löst. Schön ist also ein Tun.« Und je nach Art der überwundenen Schwierigkeit ist dieses Tun »ganz verschieden schön und nicht ewig schön« (GA 21, 520; GW 20, 154). Schönheit ist nicht moralisch zu verstehen. In den Keunergeschichten bringt er sie mit Erfolg zusammen. »Herr K. sah eine Schauspielerin vorbeigehen und sagte: ›Sie ist schön.‹ Sein Begleiter sagte: ›Sie hat neulich Erfolg gehabt, weil sie schön ist.‹ Herr K. ärgerte sich und sagte: ›Sie ist schön, weil sie Erfolg gehabt hat.‹« (GW 12, 387) Die gleichsam vorkulturelle, ›animalische‹ Schönheit, deren Anziehungskraft er eine frühe Erzählung gewidmet hat, rückt bei dieser seiner ›kulturellen Unterscheidung‹ zwischen Schönheit und ›Schönheit‹ aus dem Bild. Auch wenn die Schönheit wie der Erfolg für ihn ein ›Werk‹ ist, wendet Brecht sich dagegen, die Kunst als »das Reich des Schönen zu bezeichnen«, und besteht darauf, sie als »ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit« zu respektieren, »welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin.« (Messingkauf, GA 22.2, 755). Widerspruchsvolle Repräsentation – diese Formel wird uns bei der Analyse der Schicksale des Kulturellen weiterhelfen.
8. Exkurs: Holbeins Kaufmannsportrait von 1532 – Kulturelle Unterscheidung oder Distinktionskultur?
Der französische Ausdruck distinction meint neben »Unterscheidung« – und vielleicht sogar zunächst – »Auszeichnung« und »Vornehmheit«, was beim deutschen Ausdruck »Unterscheidung« nicht mitschwingt. Die Wörter haben eine semantische Schnittmenge, im Übrigen fallen ihre Bedeutungen auseinander. Kulturelle Distinktion und kulturelle Unterscheidung haben unterschiedliche Gegenstände und drücken gegensätzliche Subjektmodi aus. Der gedachte Akteur der Distinktionskultur tut sich vor anderen hervor, der gedachte Akteur der kulturellen Unterscheidung gibt einem konkreten Etwas den Vorzug vor etwas anderem. Der erste richtet sich in den Augen der Welt aus, der zweite richtet Welt in seiner Sicht richtig ein. Ihr jeweiliges Verhältnis zum Schönen unterscheidet sich vom jeweils anderen wie instrumentelles Handeln vom Selbstzweckhandeln. Bourdieus Akteure der Distinktionskultur atmen die Gleichgültigkeit der sich Auszeichnenden gegenüber dem, womit sie sich auszeichnen. Entscheidend ist für sie die Darstellung von Geschmack, Kennertum und legitimem Gebrauch in der Perspektive des Aufstiegs in einer Rangordnung.
Auf empirischer Ebene lässt sich der sozialontologische Unterschied freilich nur als Konstruktion zweier Idealtypen vertreten. Es ist damit zu rechnen, dass in den Erscheinungen, mit denen wir es zu tun haben, immer beide Handlungsimpulse am Werke sind. Ihr idealtypisch gedachter Gegensatz mag helfen, die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen abzuschätzen.
Repräsentationsmalerei scheint per definitionem der Distinktionskultur zuzugehören. Repräsentiert wird ein Geltungsanspruch gegenüber anderen Geltungsansprüchen. Ob aber Repräsentation darin aufgehen muss, lässt sich an dem Portrait des deutschen Kaufmanns Georg Gisze aus dem Jahre 1532 untersuchen. Der in London Lebende ließ sich dort von dem aus Augsburg stammenden Hans Holbein dem Jüngeren malen. Er holte sich einen berühmten Maler, und der Geholte investierte in das Bild seine Künste zur Steigerung seiner Marktgeltung. Die beiden Akte greifen in dem, was Bourdieu als Prestige heischenden Kulturkonsum zeichnet, ineinander. Und doch lässt den Betrachter das Gefühl nicht los, dass das nicht alles sei.
Das Portrait stellt eine ausgeprägt individuelle Persönlichkeit vor, doch diese erscheint nicht herausgelöst aus ihrer Tätigkeitswelt und Gesellschaft, nicht in der Form also, die man ›individuelle Abstraktion‹ nennen kann, sondern beruflich situiert und mit Requisiten versehen, die sie vielfach bezogen auf andere zeigen. Der Ort ist ein aus Brettern gezimmertes, relativ eng wirkendes Gelass, von dem nur die fensterlose Rückwand und ein Stück der rechten Seitenwand sichtbar sind. Die Wand ist spärlich mit zwei Querleisten und am oberen Bildrand mit zwei Regalbrettern bestückt. Hinter den Leisten stecken Briefe und Briefverschlüsse, an den Regalen, auf denen ein Buch und weitere Papiere liegen, hängen Feinwaage, zwei Sigelringe, Petschaft, Fadenspender und Schlüsselbund. Vor dieser Wand ist der Portraitierte postiert. Er steht oder sitzt hinter einer Art Tresen. Von diesem ragt nur die Tischplatte ins Bild, bedeckt mit einem Orientteppich.60 Darauf befindet sich eine venezianische Glasvase mit drei Nelken und Blütenzweigen von Goldlack, Rosmarin und Basilikum; daneben eine goldene Dosenuhr, ein Stempel, ein Sigelring, ein Satz weiterer Schreib- und Sigelutensilien und eine Schere. Den Abschluss bildet, gegen die rechte Seitenwand gelehnt, ein mit Lederriemen zusammengehaltenes voluminöses Konvolut, das als Kaufmannsbuch identifiziert zu werden pflegt61 und von einem dem Blick entzogenen, unterhalb der Tischhöhe angebrachten Seitenbord gestützt zu sein scheint.
In diesem gegenständlichen Ensemble präsentiert sich Georg Gisze, angetan mit schwarzem Samtbarett und schwarzem Umhang über einem rotschimmernden Hemd aus schwerer Seide mit weißem Besatz an der Brust und Spitzen an den Ärmelenden. An der Hüfte ragt, schwarz schimmernd, etwas ins Licht, das der Griff eines Degens sein könnte. In den Händen hält er einen Brief, den er gerade zu öffnen scheint. Den Kopf leicht nach rechts gedreht, scheint er dem Betrachter aus den Augenwinkeln direkt in die Augen zu blicken. Sein Gesichtsausdruck zeigt nichts von Imponiergehabe. Er scheint selbstbewusst, doch nicht selbstzufrieden, entspannt und doch wachsam, in sich ruhend und doch mit einem Anflug von Einsamkeit und Kälteerfahrung. Auf einem links über seinem Kopf mit Sigellack an die Wand gepinnten Zettel wird in einem etwas holprigen, auf Lateinisch abgefassten Distichon bekräftigt, dies sei in der Tat des vierunddreißigjährigen »Georgs Bildnis / Solch lebendige Augen und solche Wangen hat er«. Am linken Rand in Gesichtshöhe ist in feiner weißer Schrift der mit G. Gisze gezeichnete lateinische Spruch an die Wand geschrieben: Nulla sine merore voluptas – »Keine Lust ohne Kummer«, mit Anklang an Senecas viel blasseren stoischen Satz Nulla dies maerore caret – »Kein Tag ohne Kummer« (Troades).
Umgeben von Kaufmannssigeln seiner selbst und seiner Korrespondenten, sind weder Ware noch Geld in Sicht. Dass Gisze ›betucht‹ ist, verraten die teuren Tuche seiner Bekleidung, die goldenen Gegenstände, der Orientteppich und die Luxusvase. Nichts jedoch verrät, womit dieser Händler handelt. Wie er jedoch handelt und in welchem Medium, wird von allen Seiten bezeugt: Es ist das geschriebene Wort, die Korrespondenz, durch die hindurch er seine Geschäfte tätigt, was immer deren Gegenstand sein mag. Spielt das Handelsobjekt fürs Selbstbild dieses Händlers keine Rolle? Die Hauptrolle unter den Dingen, die diesen Menschen charakterisieren sollen, spielen die Briefe, die ihm aus anderen Weltgegenden seine Vernetztheit und seine Anerkennung spiegeln, gerahmt von den schreib- und versandtechnischen Hilfsmitteln.
Dieser Mann lässt sich repräsentieren im Sonntagsstaat, aber am Arbeitsort. Räumt man die paar goldenen Dinge in Gedanken zur Seite, zeigt sich ein Ort von plebejisch-handwerklicher Bescheidenheit. Von ihm hebt die kostbare Ausstattung des jungen Herrn sich ab, doch dieser Ort repräsentiert den werktäglichen Boden, auf dem der Sonntagsstaat sich erhebt und dem er sich verdankt. Nicht dass die Hinweise auf vornehme Verwandtschaft fehlten. Doch sie sind dezent angebracht. Man muss sie buchstäblich mit der Lupe suchen, und sie erschließen sich nur dem, der etwa weiß, dass der Bruder Bischof von Danzig ist. Religiöse Objekte sind nicht in Sicht. So drückt das Bild eine humanistische Haltung und ein diesseitiges, in Tätigkeit gründendes bürgerliches In-der-Welt-Sein aus. Dieser Kaufherr, der »Erszame / vorsichtige Jurge gysze / to lund in engelant«, wie einer der ausgestellten Briefe adressiert ist, scheint sich und seinesgleichen so selbstverständlich im Aufstieg zu erfahren, dass er bei aller Distinguiertheit, die nicht zu knapp repräsentiert ist, den geschichtlichen Tag für sich so einzurichten vermag, dass er die Distinktionskultur gleichsam mit links beherrscht und gleichwohl sich in seiner kulturellen Unterscheidung zuletzt selbst verwirklicht.
Drittes Kapitel
Materielle Kultur. Eine Problemskizze
1. Die geschichtsmaterialistische Herausforderung
Wie sich zeigen wird, ist der Begriff »materielle Kultur« nicht