Ursula Burkowski

Weinen in der Dunkelheit


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wie: Anschmierer, Anscheißer oder Streber. Da ich mir von ihr gar nichts sagen ließ, rächte sie sich einmal beim Abendbrot.

      Der Hausleiter hielt nach dem Essen eine Rede. Im Saal war es mucksmäuschenstill. Jede Gruppe saß an einer langen Tafel, so hatte der Erzieher alle Kinder gut im Blick. Hätte man auch nur ein Wort geflüstert, wäre man aus dem Saal geflogen. Das war schon sehr peinlich, wenn dreihundert Kinder einem hinterherstarrten.

      Plötzlich sah ich, wie Tanja einem Mädchen etwas ins Ohr flüsterte. Das ging durch die ganze Reihe wie »Stille Post«, und am Ende sahen mich alle Kinder an. Ich spürte, wie ich dunkelrot wurde. Keiner sah weg, ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte, es war eine Folter ohne Worte und Schmerz.

      Ich musste etwas tun – aber was? Mein Blick fiel auf die Stullen und die Margarine. Da kam mir eine Idee, wie ein Blitz schoss mir der Gedanke durch den Kopf. Langsam, ganz ruhig beschmierte ich eine Stulle dick mit dem Fett und stand auf. Nun schauten alle Kinder auf mich, staunend, dass ich es wagte, die Rede des Hausleiters zu unterbrechen. Aber nun war mir alles egal, noch röter als eine Tomate konnte ich nicht mehr werden. Ich schritt durch die Reihen auf Tanja zu, die mich verständnislos ansah. Mit der linken Hand griff ich in ihren Nacken und drückte ihr mit der rechten die Stulle so lange ins Gesicht, bis sich die Nase durch das Brot bohrte. Dann ging ich auf meinen Platz zurück. Kein Mädchen sah mehr zu mir, alle schauten Tanja an und lachten schallend.

      Der Hausleiter sagte kein Wort. Er wartete, bis es wieder still war, und setzte seinen Vortrag fort, als sei nichts geschehen.

      Wir zogen die Köpfe ein, denn wir wussten, die Strafe würden wir von unserer Erzieherin bekommen, und das war schlimmer. Aber ich war zufrieden.

      Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie viele Erzieher und Lehrer ich insgesamt hatte. Eines Tages kam wieder eine neue Erzieherin, Frau Ratzi, eine ehemalige Opernsängerin. Sie war einmal adlig gewesen, erzählte sie uns, und eigentlich hieß sie Susanna von Pukliz. Wir fanden sie nett, sie kam gut mit uns aus. Warum sie keine Opernsängerin mehr sein wollte, erzählte sie uns nicht, aber abends sang sie uns im Schlafraum wunderschöne Lieder vor. Sie hatte eine herrliche Stimme, wir konnten nicht genug davon hören.

      Bald darauf kam ihr Mann ins Heim und gründete einen Chor. Zuerst waren wir alle begeistert, aber dann wollte er wohl Opernsänger aus uns machen, und das gefiel uns nicht. Stundenlang mussten wir denselben Ton singen. Viel lieber hätten wir draußen gespielt, doch seine Frau zwang uns, in den Chor zu gehen.

      Nicht allen machte das Singen Spaß, und schon gar nicht mir, ich war total unbegabt und hatte in Musik eine Vier. Herrn Ratzi schien meine Stimme zu gefallen, und er sagte: »Ursula, komm nach vorn.«

      Dann sollte ich einen hohen Ton nachsingen. Erst fing die letzte Reihe an zu lachen, dann lachten alle Mädchen. Ich kam mir so albern vor, dass ich mitlachen musste.

      Plötzlich riss Herr Ratzi an meinen Haaren, zog meinen Kopf nach hinten und brüllte mir ins Gesicht: »Wenn du meine Tochter wärst, würde ich deinen Kopf an die Wand klatschen.«

      Mir traten vor Wut und Schmerz Tränen in die Augen, aber ich heulte nicht los, sondern rief laut: »Gott sei Dank bin ich nicht Ihre Tochter!«

      Ein anderes Mädchen schrie er an: »Bilde dir bloß nicht ein, weil du schon ein paar Titten hast, dass du hier machen kannst, was du willst!«

      Die Mädchen lachten nicht mehr, sie standen alle auf, und gemeinsam gingen wir aus dem Zimmer.

      Wir wollten aus dem Chor austreten, aber Frau Ratzi ließ das nicht zu. Sie hoffte, mit Hilfe ihres Mannes einen berühmten Chor auf die Beine zu stellen. Doch Herr Ratzi benahm sich immer unmöglicher. Wenn ein Ton nicht stimmte, brüllte und spuckte er über den Flügel.

      Unser erster und letzter Auftritt war am »Tag des Lehrers«. Wir sollten auf der Freilichtbühne vor der gesamten Schule unsere einzigartige Leistung zeigen. Jetzt rächten wir uns. Herr Ratzi stand vor uns und gab den Ton an, wir begannen zu singen. Nach der ersten Strophe sangen wir nochmals die erste, und das wiederholten wir immer und immer wieder. Ich stand in der letzten Reihe und lachte. Herr Ratzi dirigierte wie ein Verrückter. Beim vierten Mal lachten alle Schüler, natürlich nicht die Lehrer. Wir verließen lachend die Bühne, aber ohne Applaus.

      Wütend brüllte Herr Ratzi: »Der Chor ist aufgelöst!«

      Frau Ratzi kündigte, und wieder kam eine neue Erzieherin, Frau Stiefel. Sie wirkte unscheinbar und recht hilflos und besaß keine Autorität. Wir machten, was wir wollten; sie hatte nicht die Kraft, sich durchzusetzen. Wenn am Abend das Licht gelöscht wurde, hieß es: »Sie ist weg, jetzt geht’s los!«

      Kopfkissen flogen durch die Luft, es wurde erzählt, gelacht und gespielt und Unsinn getrieben. Ein Mädchen musste sich freiwillig melden und rausgehen. Schnell entfernten wir ein paar Metallhaken aus der Sprungfedermatratze des Bettes, setzten eine Schüssel mit Wasser hinein, legten das Laken darüber und anschließend das Kissen ans obere Ende und die Decke ans Fußende. So wirkte das Bett ganz normal. Wir holten das Mädchen herein, dann stellten wir uns alle an die Tür, denn nun sollten wir ohne Licht in unsere Betten springen. Das Mädchen sprang auch, ahnte aber etwas und hopste nur ganz vorsichtig. Dann schrie sie: »I pfui!«

      Wir mussten lachen, denn sie war trotzdem in der Schüssel gelandet und nass geworden.

      Um 21 Uhr begann die erste Runde der Nachtwache. Gerade als der Krach am größten war, wurden wir erwischt, aber nicht von der Nachtwache, sondern vom Hausleiter selber, der seine Wohnung im Parterre unseres Hauses hatte. Er hielt sich nicht mit langen Reden auf: »Los, raus! Alle!«

      Wir mussten uns vor seinem Büro um einen Tisch stellen und so lange stehen, bis wir uns vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Unser Hausleiter, Herr Böhle, war sonst in Ordnung, er lebte schon immer mit seiner Familie bei uns. Mit seiner Tochter war ich befreundet. Er tat sehr viel für uns. Ihm verdankten wir unseren ersten Hausfernseher. Dafür sparten die Großen von ihren drei Mark Taschengeld monatlich. Er besaß für uns die notwendige Autorität, ohne sich dabei Mühe geben zu müssen. Er hatte immer Zeit für uns, hörte unsere Sorgen an und verstand es, kameradschaftlich mit uns über Probleme zu diskutieren.

      An diesem Abend müssen wir den Bogen wohl überspannt haben. Denn kaum hatte er uns ins Bett geschickt, ging der Krach erneut los. Die Müdigkeit vom langen Stehen war wie weggeblasen. Gegen Mitternacht stellte uns die Nachtwache wieder auf den Flur – an jede Zimmertür ein Mädchen im Nachthemd und mit Hausschuhen –, da bog Herr Böhle nichts ahnend um die Flurecke. Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, dachte ich an ein Donnerwetter, aber er tat etwas völlig anderes. Beim ersten Mädchen fing er an: Schelle, Arschtritt.

      »Ins Bett!« Er schritt den Flur entlang. Schelle, Arschtritt. »Ins Bett!«

      Die Ohrfeige steckte ich gerade noch ein, beim Arschtritt war ich schon in meinem Zimmer verschwunden.

      Am nächsten Tag erzählten wir unser nächtliches Erlebnis der neuen Erzieherin, aber sie sagte nur: »Die Schuhspitze hätte euch im Arsch stecken bleiben müssen!«

      Nach dieser Äußerung war sie bei uns unten durch. Wir befolgten ihre Anordnungen überhaupt nicht mehr, und mit der Disziplin war es endgültig vorbei, bis eine neue Erzieherin kam.

      Es war die einzige Ohrfeige in meinem Leben von einem Erzieher. Wir mochten Herrn Böhle trotz der Schelle weiterhin; er tat, als sei nichts geschehen, und die alte Kameradschaft hielt bis zu seinem Weggang.

      Ich war gerade zwölf Jahre alt, als ich erfuhr, wie schrecklich der Tod ist.

      An besonderen Tagen führten wir mit der Laienspielgruppe kleine selbstinszenierte Stücke auf. Unsere Geschichte handelte von einem kleinen Jungen, der aus seinem Heim wegläuft, weil er sich nicht mehr waschen will. Unterwegs trifft er die Sumpfhexe. Sie findet ihn herrlich dreckig und versucht, ihn mit allen Zaubertricks davon abzuhalten,