ihn war ich nur die »Kleine«, leider!
Ich fand es toll, dass ich mit ihm spielen durfte, wollte aber meinen Text nicht zu ihm sagen. Deshalb flüsterte ich ihn nur. Das brachte mir ziemlichen Ärger mit der Erzieherin ein, so dass ich nur aus Angst, man würde für die Rolle der Blume ein anderes Mädchen nehmen, mich überwinden konnte, laut und deutlich zu sprechen.
Dieses Stück war der größte Erfolg, den wir bisher hatten. Durch die vielen Proben war ich oft mit Edgar zusammen. Hier und da sagte er ein paar nette Worte zu mir, beachtete mich aber sonst nicht weiter.
Wenn ich auf dem Schulhof von Jungs geärgert wurde, rannte ich zu Edgar, und er stand mir bei. Darauf war ich mächtig stolz.
An einem Sonntag ging ich nicht zum Frühstück in den Speisesaal. Mir war nicht gut, weil ich meine Tage hatte. Nach dem Frühstück kamen die Kinder verstört und weinend zurück, sie redeten aufgeregt durcheinander. Ich erfuhr das Unfassbare. Beim Betreten des Speisesaales sahen die Mädchen ein großes Bild von Edgar auf dem Flügel, der auf der Bühne des Saales stand. Während des Essens wurde darüber getuschelt, was das für eine Bedeutung habe, als Herr Hühne den Saal betrat. Da er sonst nur selten im Saal erschien, wussten alle Schüler sofort, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste. Er stieg auf die Bühne, stellte sich neben Edgars Bild und sprach mit seiner ruhigen Stimme über Edgar. Dann bat er um drei Minuten des Schweigens, da Edgar soeben im Krankenhaus gestorben sei.
Ich konnte diese Nachricht nicht begreifen. Jetzt fiel mir ein, dass ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ich wollte es nicht glauben, lief zu den Kumpels seiner Gruppe und fragte nach Edgars Freund. Er war nirgendwo zu finden. Da rannte ich zum Speisesaal und sah auf dem schwarzen Flügel Edgars Bild mit Trauerflor.
Das Gefühl der Traurigkeit, das ich schon bei Christians Unglück kennengelernt hatte, zog sich schmerzhaft durch meinen Körper. Ich stand vor dem Bild und konnte nicht weinen, denn seine Augen lachten – lachten, als wollte er meine Trauer nicht. Erst draußen im Wald, wo ich mit mir allein war, weinte ich und fühlte mit Edgars Tod ein Stück meiner Kindheit sterben.
Toro
Nach dem Krieg waren Frauen aus Überzeugung in das Kinderheim gekommen, um uns mit Liebe und Fürsorge zu helfen. Kurze Zeit erlebte ich in der ersten Klasse eine wirklich barmherzige Erzieherin.
Frau Nöte kümmerte sich besonders um einen Jungen, der als einziges Kind im Heim ein Farbiger war. Er hieß Toro. Seine Mutter, eine Deutsche, hatte ihn gleich nach der Geburt im Krankenhaus gelassen. Sie wollte das schwarze Kind nicht und flüchtete in den Westen. Infolge seiner Hautfarbe genoss er eine Sonderstellung bei den Erwachsenen. Für sie war er das niedliche Krausköpfchen. Er wurde ständig bevorzugt, und das brachte einige Kinder so in Wut, dass sie eines Tages aus ihm einen Weißen machen wollten. Sie klauten aus der Küche Mehl und bestäubten ihn damit von Kopf bis Fuß. Obwohl ich es gemein fand, musste ich bei seinem Anblick lachen. Wäre nicht Frau Nöte rechtzeitig gekommen, wer weiß, was die Großen mit ihm noch gemacht hätten. Sie trug ihren Namen »Nöte« nicht zu Unrecht.
In den späteren Jahren wechselten die Erzieher häufig. Es trafen die ersten Pädagogen mit dem Examen von den Lehrerinstituten in der Tasche ein. Die wenigsten von ihnen interessierten sich wirklich für uns. Sie wollten nur ihre »Pflichtjahre« bei uns abarbeiten, wodurch sie eine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin erhielten. Hatten sie ihre drei Jahre absolviert, verschwanden sie wieder. Wir wurden älter und die Erzieher ständig jünger. Alle unternahmen den Versuch, uns zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen, scheiterten aber an ihren eigenen menschlichen Schwächen.
Als junge Mädchen bemerkten wir jede Veränderung an unseren Erziehern. Es dauerte nicht lange, und wir wussten, welcher Lehrer mit welcher Erzieherin kramte. Mit der Zeit betrachteten wir sie nur noch als Notwendigkeit, die eben zum Heim gehörte.
Mein erster BH
Eines Tages kam Frau Otto, auch eine junge Erzieherin, zu uns. Sie hatte eine sieben Monate alte Tochter. Hin und wieder brachte sie das Kind mit zur Arbeit. Oft stand die Kleine stundenlang auf der Wiese, keine von uns konnte an dem Wagen vorbeigehen, ohne das Baby zu schaukeln oder mit ihm zu spielen. Frau Otto hatte keine Probleme mit uns. Sie achtete auf ordentliche Kleidung, was nicht einfach war. Meistens trugen wir Einheitssachen oder ausgewaschene Kleidung von den Großen. Ich machte mir nicht viel aus meiner Kleidung, am liebsten lief ich im Trainingsanzug herum, der mit seinen weiten Hosenbeinen unmöglich aussah. Ich kletterte auf Bäume, baute mit einigen Jungs Höhlen und fühlte mich dabei sehr wohl. Mit der Ankunft von Frau Otto änderte sich mein Äußeres. Ich trug helle Kleider, neue Schuhe und kam mir richtig schön vor.
Eines Tages, als Frau Otto bei uns im Gruppenraum stand, sagte sie zu mir: »Es wird Zeit, dass du einen BH trägst.«
Mir war das vor den Mädchen peinlich, denn alle blickten plötzlich auf meine Brust. Ich fand nichts Besonderes an ihr. Natürlich wusste ich, dass ich mehr hatte als die anderen – aber warum nun gleich einen BH?
Der Weg zur Wäschefrau schien kein Ende zu nehmen. Als ich endlich dort landete, stotterte ich herum, bis sie wusste, was ich wollte.
Da grapschte sie an meine Brust, tastete sie ab und sagte: »Für diese kleinen Dinger brauchst du keinen BH.«
Das Abtasten war mir unangenehm, aber noch mehr schämte ich mich, als sie mir trotzdem einen rosafarbenen BH in die Hand drückte.
Sie vergaß allerdings, mir zu zeigen, wie man ihn anlegte. Mit dem Ding in der Hand rannte ich in meine Gruppe, triumphierend hielt ich es hoch und sagte: »Seht mal, was ich hier habe!«
Staunend fassten alle Mädchen den »Rosaroten« an, einige hielten ihn an ihre Brust, er war allen zu groß.
»Los, bind ihn mal um!«
Ich schlüpfte mit den Armen durch die Träger, und die Mädchen machten den Verschluss zu. Aber wie sah das aus! Der BH saß durchaus nicht dort, wo er hingehörte. Ich lachte mich halb tot. Wie ein Sabberlatz hing er mir um den Hals. Wir zogen und schoben an ihm herum, bis er endlich dort saß, wo er sein sollte. Ich fühlte mich mit dem Ding wie in einer Zwangsjacke. Beim Versteckspielen rutschte er mir dann wieder über die Brust und um den Hals. Ich suchte ein Gebüsch, wo mich keiner sah, und schnallte das Ding ab, steckte es in die Tasche meines Kleides und fühlte mich sofort befreit. Später erfuhr ich, dass die Träger verstellbar waren, aber ich hatte ihn ja ohne Gebrauchsanweisung erhalten.
Frau Otto musste nach den Sommerferien eine andere Gruppe übernehmen. Sowohl sie als auch wir waren sehr traurig, als sie uns verließ. Der Grund war die folgende Geschichte.
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