Ursula Burkowski

Weinen in der Dunkelheit


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Schule bemühten sich die Lehrer, auf unsere Fragen eine Antwort zu finden. Sie erzählten immer wieder, dass sich im Westen alte Nazis versteckt hielten und dass die Menschen dort Feinde unseres Landes seien. Die Kapitalisten wollten uns nur ausbeuten und uns alles wegnehmen. Wir Zehnjährigen glaubten daran.

      Die Mauer war noch nicht sehr hoch. Sie trennte einfach die Straße und zog sich durch einen Park mit einem Spielplatz. Wir gingen oft zum Schaukeln dorthin. Soweit ich sehen konnte, nahm die Mauer auch hier kein Ende.

      Ich sagte gerade zu Tina: »Pass mal auf, deine Eltern werden dich bestimmt rüberholen«, als es plötzlich einen lauten Knall gab und sich stark beißender Rauch bildete. Wir sahen, wie Männer auf einen Baum kletterten und sich von den Ästen, die über die Mauer hingen, in den Westteil fallen ließen. Der Lärm wurde schlimmer, ebenso der Rauch. Ich dachte: Jetzt ist Krieg!

      So schnell wir konnten, rannten wir zur Wohnung des Bruders. Auf der Straße begegneten uns Lastwagen, vollbesetzt mit Soldaten. Leute, die vorher noch friedlich an der Mauer gestanden und sich Grüße zugerufen oder mit Taschentüchern gewinkt hatten, liefen wie gehetzt davon. Dabei schrien oder heulten sie, jeder versuchte, sich in einen Hausgang zu retten.

      Ich zitterte am ganzen Körper und weinte vor Angst. Von Haustür zu Haustür rannten wir längs der Mauer, wir wollten uns bei Tinas Bruder in Sicherheit bringen. Mir liefen die Tränen, ich konnte fast nichts mehr sehen.

      Im Treppenhaus kam uns der Bruder entgegen. »Wo seid ihr gewesen?«, fragte er besorgt und erregt.

      Unter Tränen erzählten wir, was auf der Straße los war. Er schob uns in die Wohnung.

      An der Tür hielt ihn seine Frau mit den Worten zurück: »Bist du verrückt, geh nicht runter, die nehmen dich doch gleich mit.«

      Der Krach ließ nach, wir beruhigten uns und hörten, wie der Bruder mit dem Nachbarn auf der Treppe darüber sprach, dass Leute von drüben Tränengas geschossen hätten, um den Ost-Berlinern das Abhauen zu erleichtern.

      Als ich im Heim davon erzählte, fanden es die Mädchen aufregend und spannend.

      Die nächsten Wochen durfte allerdings kein Kind das Heim verlassen. Der Wald war wegen der Grenznähe mit Soldaten besetzt. Regelmäßig versorgten sie sich im Heim mit Wasser, das sie in riesigen Kübelwagen holten. Am Heimtor hielten ältere Schüler in FDJ-Kleidung Wache. Ohne Kontrolle kam keiner herein und schon gar nicht hinaus. Die Begründung lautete: In dieser schweren Zeit ist unser Land in Gefahr, der Feind ist überall. Unser Spruch bei der Aufnahme in die Pionierorganisation, »Immer bereit«, fand in diesen Tagen seine Anwendung. Wir waren »immer bereit« für unseren Staat. Wachsamkeit war nun das höchste Gebot, jeder fremde Besucher konnte ein Feind sein.

      Der Radiosender R IA S war plötzlich ein »Hetzsender« und genauso streng verboten wie der »Groschenroman«. Dass uns der Westen über das Fernsehen keinen »Schaden« zufügen konnte, verdankten wir dem schlauen Einfall eines Erziehers. Er überklebte am Gerät den Umschaltknopf mit Heftpflaster, und die Antenne verschwand.

      Tina veränderte sich von Tag zu Tag. Meistens lag sie weinend auf ihrem Bett. Weder durch tröstende Worte noch durch Faxen konnte ich ihr helfen. Vergeblich wartete sie auf ein Lebenszeichen ihrer Eltern. Kein Brief, keine Karte; auch ihr Bruder wusste nichts Neues über ihren Verbleib.

      »Ich will zu meiner Mami«, seufzte sie oft unter Tränen. Über Tinas Kummer sprach ich mit der Erzieherin, aber sie sagte nur: »Wenn Tina lange genug hier ist, wird sie sich schon einleben.«

      Das hörte sich nicht gerade ermutigend an, und ich schloss daraus, dass Tina wohl noch lange Zeit im Heim bleiben musste. Ich sagte ihr lieber nichts davon. Tina lebte sich nicht ein.

      Einmal kam ich dazu, wie sie sich einen Strumpf um den Hals band.

      »Tina, was machst du da?«, schrie ich.

      Meine Bemühungen, ihr den Strumpf abzunehmen, wehrte sie mit aller Kraft ab. Wie eine Wahnsinnige rief ich um Hilfe. Mädchen, die ins Zimmer stürzten, holten sofort die Erzieherin. Mit Gewalt hielten wir Tina fest und entfernten den Strumpf.

      Sie kam ins Krankenhaus. Lange, bis in die Nacht hinein, dachte ich an Tina und was wohl mit ihr werden würde.

      Tina kam nie mehr ins Heim zurück.

      Zur Einhaltung von Sauberkeit und Ordnung machte der Hausleiter mit den Pionieren vom Dienst Haus und Gruppenkontrollen. Das heißt, wir hatten »Appell«, jeden Freitag. Zehn bis sechzehn Mädchen standen in einer Reihe, kerzengerade ausgerichtet, auf dem Flur.

      Wenn der Hausleiter mit den Pionieren vom Dienst am Flureingang erschien, rief unser Pionier vom Dienst: »Achtung, stillgestanden!« Und zum Hausleiter gewandt: »Die Gruppe ist bis auf einen vollzählig angetreten. Ein Mädchen liegt auf der Krankenstation.«

      »Danke, rührt euch!«

      Dann kontrollierten sie die Räume und Schränke. Wir wagten kaum zu flüstern. Bis der Rundgang zu Ende war, standen wir still in der Reihe. Gab es Mängel, zum Beispiel Staub unter einem Bett, hieß es: »In einer halben Stunde kommen wir wieder, bis dahin ist der Dreck weg!«

      Die Schuldige hatte nichts zu lachen, ein Schwall von Beschimpfungen brach über sie herein. Anschließend redete keine mehr ein Wort mit ihr. Diese sogenannte »Kollektivstrafe« verfehlte ihre Wirkung in der Erziehung nicht. Bis die Gruppe »abgenommen« wurde, durfte kein Mädchen in den Ausgang, also nach Hause fahren.

      Wir verrichteten die Ämter ziemlich gründlich, niemand wollte an den Verboten Schuld haben. Lag die Verschiebung des Wochenendausgangs an einem unordentlichen Schrank, leerte ihn der Pionier vom Dienst mit einer Armbewegung aus. Obwohl die »Schuldige« ihn wieder in Ordnung brachte, begann die Strafe nach dem zweiten Durchgang. Die Sachen wurden immer und immer wieder ausgeräumt, bis das Mädchen weinend zusammenbrach. In ihrer Verzweiflung fand sie weder Trost noch Schutz bei den anderen. Von solchen Strafen blieb ich verschont, da ich den Tagesablauf seit acht Jahren kannte.

      Wir nannten sie nur Kartoffelferien. In Einheitskleidung fuhren wir mit dem Zug in ein Dorf in der DDR oder in die »Zone«, wie man sie unter sich nannte. Unsere Unterkunft war meistens der Tanzraum einer Kneipe, der mit Matratzen ausgelegt wurde. Nachts bibberte ich vor Kälte, obwohl wir in den Sachen schliefen. Der eiserne Ofen hielt die Wärme genauso wenig wie die dünne, kratzige Wolldecke. Herbstlicher Nebel und feiner Nieselregen hinderten uns nicht daran, sehr zeitig auf dem Acker zu sein. Es machte mir nichts aus, mit den Händen die Kartoffeln aus dem Matsch zu klauben und die schweren Kiepen zur Sammelstelle zu schleppen. Dort wurden sie gewogen, und wir erhielten Marken, für die es später Geld gab. Aber die Kälte und die nassen Klamotten, die nie richtig trockneten, bewirkten, dass ich mich vor den Herbstferien fürchtete.

      Für einige Erzieher war es eine besondere Freude, wenn sie uns zur Arbeit erziehen konnten. Denn immerhin lebten wir von den Geldern des Staates, wie sie es ausdrückten. Sie starteten einen Wettbewerb, um uns zur Arbeit anzuspornen.

      »Wer die meisten Kiepen sammelt, wird Kartoffelkönig.«

      Dreckig und frierend krochen wir Stunde um Stunde übers Feld. Erreichte unsere Stimmung so ziemlich den Nullpunkt, stimmten die Erzieher ein Lied an: »Heut ist ein wunderschöner Tag, die Sonne lacht uns so hell.«

      Nach den Ferien bekam ich schreckliche Schmerzen in den Kniegelenken und konnte kaum gehen. Ich wurde auf die Krankenstation gebracht, musste viele Untersuchungen über mich ergehen lassen und bekam Medikamente und Kurzwelle. Danach brauchte ich nie mehr zum Kartoffeleinsatz zu fahren.

      Wieder einmal bekamen wir eine Neue. Der Hausleiter stellte sie uns bei einem Appell vor.

      Paula, 13 Jahre alt, wirkte sehr selbstbewusst und nicht so schüchtern wie die meisten, wenn sie zum ersten Mal ins Heim kamen. Sie hatte braune Augen und lockiges Haar. Wie immer, wenn eine Neue kam, umringten wir sie, und sie musste erzählen,