stand starr und stumm und hoffte nur, nicht angefasst zu werden. Eltern? Ich wusste gar nicht, was das war. Und gefallen? Außer dem Heim kannte ich nichts anderes, ich verstand einfach ihre Fragen nicht.
Christian
Am liebsten spielte ich mit einem Jungen, der Christian hieß. Er war etwas älter als ich, aber kleiner. Mir gefielen besonders seine großen braunen Augen. Christian war immer lustig, er hatte tolle Spielideen, mit ihm konnte ich über alles lachen. Selbst wenn ich mich beim Toben verletzte und es sehr weh tat, brachte er mich zum Lachen. Nie hatte ich eine solche Freundin.
Leider sollte ich ihn nicht lange als Freund behalten. Es war an einem Freitag, da wechselten wir die Wäsche und durften baden. Die Erzieherin hatte nicht die Zeit, jedes Kind abzutrocknen, das mussten wir selbst tun. Wir gingen mit Handtüchern in den Schlafraum. Mir kam der Einfall, Fangen zu spielen. Im Zimmer standen die Metallbetten hintereinander. Es machte ungeheuren Spaß, von einem Bett auf das andere zu springen. Christian war mit dem Fangen dran. Wir sprangen wie die Verrückten, durch die Sprungfedern wurden wir hochgeschleudert und landeten mit Leichtigkeit auf dem nächsten Bett. Plötzlich hörte ich hinter mir einen Schrei, ich drehte mich herum, Christian lag blutend auf dem Boden. Tröstend versuchte ich, ihm hochzuhelfen, aber es ging nicht. Er war mit den nassen Füßen abgerutscht und mit dem Hinterkopf auf die Bettkante geschlagen. Wahnsinnige Angst um ihn überkam mich. Ich schrie wie am Spieß. Die Erzieherin stürzte herein, hob Christian hoch und brachte ihn weg.
Ich verkroch mich unter meiner Decke und weinte die ganze Nacht. Immerzu sah ich ihn im Blut liegen und hörte seinen Schrei. Alleingelassen mit meiner Traurigkeit und den Schuldgefühlen, ging ich den Kindern aus dem Weg. Oft saß ich auf meinem Bett und dachte an Christian, er fehlte mir sehr. Jeden Tag fragte ich die Erzieherin, wann er wiederkäme. Es hieß immer: »Bald.«
Aber er kam nicht mehr wieder.
Einschulung
Mit sechs Jahren kam ich zur Einschulung in das Haus Nummer 1. Alle Schulkinder mussten ihre Pionier-* oder FDJ**-Kleidung tragen. Vor der Schule fand ein Fahnenappell statt, die Großen sangen Lieder, dann überreichten sie uns kleine Blumensträuße und die langersehnte Schultüte.
Zu den Luftballons mit den Friedensgrußzetteln an der Schnur sah kaum einer hin, wir wollten alle nur wissen, was in der langen Tüte war. Enttäuscht stellte ich fest, dass die Kekse, Bonbons und Buntstifte angesichts der mit reichlich Klopapier ausgefüllten Spitze recht mickrig waren. Kinder, die Verwandte hatten, bekamen von ihnen dazu noch viele schöne Dinge.
Traurig darüber, dass mich niemand besuchte, ging ich zu den Mädchen, die auch als Waisen galten, und wir spielten mit den Schultüten Burgfrauen. Da holten uns plötzlich drei Schüler aus einer Gruppe der Größeren in ihren Tagesraum, wo für uns ein festlich gedeckter Tisch stand. Sie wollten uns eine Freude machen und sagten: »Pioniere helfen sich immer.«
Nun konnte ich es kaum erwarten, bis ich Pionier wurde und das blaue Halstuch tragen durfte. Fast jeden Tag rannte ich zum Pionierleiter, wir nannten ihn Suppi, weil er so dünn war, und fragte ihn: »Wann werde ich Pionier?«
Eines Tages war es endlich so weit, feierlich wurde ich im Speisesaal vor allen Schülern in die Pionierorganisation »Ernst Thälmann« aufgenommen. Nach der Aufforderung »Seid bereit!« und meiner Antwort »Immer bereit!« war ich Pionier. Jeden Tag trug ich nun das blaue Tuch. Bald hatte ich mich so daran gewöhnt, dass mir der Sinn und die Symbolik verlorengingen und es seinen Zweck als Knabber- oder Taschentuch erfüllte. Einen schlechten Dienst erwies es mir bei meinem ersten Abenteuer im Westen.
Ausflug nach »drüben«
Ute, eins der größeren Mädchen, hatte einen Bruder in West-Berlin. Sie fuhr oft zu ihm hinüber, um sich Mickymaus-Hefte oder Liebesromane zu holen. Diese Hefte waren im Heim als Schundliteratur strengstens verboten. Mir gefielen die Mickymaus-Hefte so gut, dass ich sie mir von ihr ausborgte. Im Wald sah ich sie mir dann heimlich an.
An einem Nachmittag fragte mich Ute, ob ich mal mit nach drüben fahren möchte. Von einer ungeheuren Neugier getrieben, sagte ich sofort zu. Wir kletterten über den Heimzaun und liefen durch den Wald, dann durch eine Laubenkolonie, und am Teltowkanal mussten wir nur noch über eine Brücke gehen. Unentdeckt von der Polizei, schafften wir es.
Ich sah Schaufenster, gefüllt bis zum Rand, wie ich sie aus Ost-Berlin nicht kannte. Bei uns gab es die Butter auf Marken. Manchmal schickte mich die Erzieherin aus Zeitmangel in den Konsum. Dort gab ich die Marken ab und erhielt die zugeteilte Butter. Hier in West-Berlin lag sie einfach im Regal. Aber am tollsten fand ich die Kaugummiautomaten an den Hauswänden. Vor Begeisterung kam ich aus dem Staunen über so viele schöne Dinge nicht mehr heraus.
Utes Bruder schenkte uns Geld für Kuchen, den wir uns selbst aussuchen durften.
Im Bäckerladen bewunderte ich gerade die vielen Sorten von Torten und Broten, da fragte mich die Verkäuferin: »Was möchtest du?«
Stolz zeigte ich auf einen riesigen Liebesknochen.
Als sie mein blaues Pioniertuch sah, fragte sie: »Bist du Pionier?«
Aus Angst, sie würde mir keinen Kuchen geben, wenn ich »Nein« sagte, antwortete ich schnell: »Natürlich!«
Da fing sie laut an zu lachen und sagte verächtlich: »Pioniere bekommen bei mir keinen Kuchen!«
Wütend und traurig zugleich verließ ich den Laden und dachte: Scheiß Olle, sitzt mit dem Arsch in der Sahne und rückt nichts raus!
Nie wieder habe ich freiwillig das Halstuch getragen, sondern nur zu den Pflichtveranstaltungen im Heim.
Pflegeeltern
Die ersten Pflegeeltern für das Wochenende bekam ich, als ich noch nicht zur Schule ging. Dort fühlte ich mich nicht wohl. Ich schlief in einem Raum, der vollgestopft war mit alten, dunklen Möbeln. Ein Schrank mit einem großen Spiegel in der Mitte war die einzige Abwechslung für mich. Stundenlang stand ich davor und machte Faxen. Ab und zu öffnete sich die Zimmertür, dann schauten fremde Menschen herein, denen ich als armes Heimkind vorgestellt wurde und brav guten Tag sagen sollte, was ich nicht tat. Überhaupt sprach ich nie bei fremden Leuten. Ohne die vielen Kinder fühlte ich mich einsam. Mein Verhalten entsprach nicht den Vorstellungen der Eltern, und sie ließen mich wieder im Heim.
Mit sechs Jahren bekam ich die zweiten Pflegeeltern. An einem Sonnabendnachmittag hatte ich mich mit einem Mädchen gezankt, und die Erzieherin gab mir nicht recht. Vor Wut heulte ich, mir lief die Nase, und ich wollte am liebsten keinen Menschen mehr sehen. Schon bei Christians Unfall hatte ich begriffen, dass es im Heim besser war, keine Gefühle zu zeigen. Nie war man allein, immer stand man unter Beobachtung. Oft verwechselten die Erzieher unsere Gefühlsausbrüche mit Ungehorsam, Frechheit oder Wut.
Da kam der Hausleiter und sagte zu mir: »Putz dir die Nase, trockne deine Tränen, sei jetzt schön lieb und komm mit in mein Büro, deine Eltern sind da.«
Vor Schreck vergaß ich das Heulen, aber dann fiel mir ein, dass ich ja keine Eltern hatte. Ich ließ meine Tränen und die Nase weiterlaufen, rutschte trotzig mit dem Rücken an der Flurwand hinunter, setzte mich auf den Boden und sagte: »Nee, jarnich!«
So wie ich war, zog er mich an meiner Hand wieder hoch und ging mit mir zum Büro.
An einem runden Tisch saßen ein Mann und eine Frau. Sofort spürte ich, dass es nicht meine richtigen Eltern waren, und zeigte ihnen gegenüber kein Interesse. Mit gesenktem Kopf, den Blick auf meine alten Hausschuhe gerichtet, als ob diese alles mir geschehene Unrecht wiedergutmachen könnten, sahen mich die neuen Pflegeeltern zum ersten Mal. Es wurde über mich verhandelt und beschlossen, dass sie mich am Wochenende abholen sollten. Mich fragte keiner!
Die Kinder meiner Gruppe erkundigten sich aufgeregt, wie die neuen Pflegeeltern aussahen. Ich wusste es nicht, es war mir auch egal.
Abgeholt wurde ich dann von der Nichte meiner Pflegeeltern.