dir keine Sorgen, ich rede mit ihm!« Mühsam drehte er sich auf die Seite, um sich auf seinen vorhandenen Arm zu stützen. Dann winkelte er die Beine an und wälzte sich auf die Knie. Schwankend stellte er einen Fuß auf den Boden und drückte sich hoch.
Grimhild hütete sich zu helfen, obwohl sein Anblick ihr in der Seele wehtat. Er hätte ihre Hilfe nicht geschätzt. Während sie ihm nachschaute, als er mit unsicherem Schritt zu ihrem ältesten Bruder hinüberwankte, fragte sie sich unwillkürlich, ob sie nicht einen Fehler begangen hatte, ihn zu ihrem Fürsprecher zu machen.
Der Niflungenkönig sah seinen Bruder auf sich zukommen und lud ihn ein, neben ihm Platz zu nehmen, ohne sich die Besorgnis über seinen Zustand anmerken zu lassen.
Gernholt kam gleich zur Sache. »Ich muss mit dir reden«, sagte er.
Gunter seufzte. »Du möchtest mir sagen, was für ein guter Verbündeter Sigfrid wäre.«
Gernholt sah ihn verdutzt an. »Woher weißt du das?«
In gespielter Verzweiflung rang der Niflungenkönig die Hände. »Ich hoffe, der Sachse verlangt sie endlich zur Frau, damit ich wieder einmal Ratschläge zu anderen Themen zu hören bekomme.«
Die Sonne war inzwischen hinter den Hügeln versunken. Ein schmaler rötlicher Schein erhellte noch den Horizont, ansonsten hatte sich die Nacht bereits wie ein azurblaues Tuch über das Land gelegt. Die Sterne funkelten in seltener Klarheit. Unter Jauchzen und Schreien bereiteten sich Jungen und Mädchen und solche, die wieder jung wurden, auf das Feuerradrollen vor. Zahllose Wagenräder aus Stroh wurden aufgestellt. Der pluostrari ging herum und entzündete unter rituellen Beschwörungsformeln ein Rad nach dem anderen. Begleitet vom Geschrei der Feiernden rollten die Sonnensymbole dann ins Tal hinab.
Gislher ließ ein Geheul ertönen, als er seinem brennenden Rad einen Stoß gab und mit den Augen der Feuerspur folgte. Ivo tat es ihm gleich, und die beiden Jungen feuerten ihr Rad an, als Erstes unten zu sein. Im unruhigen Licht des Feuers wirkten sie wie Brüder. Ivo war hier geboren und unfrei geworden, als Aldrian das Niflungenreich eroberte. Der König hatte ihn gemeinsam mit Gislher aufgezogen, wie es üblich war.
Hunderte flammender Funken jagten den Hügel hinab und bildeten zuckende Muster in der Dunkelheit. Es war aufregend, ihnen nachzusehen. Auch Dietlind schrie vor Begeisterung. Gislher bemerkte ihre sehnsüchtigen Blicke, und ihm kam zu Bewusstsein, dass sie auf ihrer Reise keine Gelegenheit gehabt hatte, Vorbereitungen für das Fest zu treffen. »Wartet!«, sagte er und lief mit raschen Schritten davon. Als er zurückkam, hielt er ein Strohrad in der Hand. »Für Euch.«
Dietlind war gerührt. »Danke«, sagte sie.
Er zog ein brennendes Scheit aus dem Feuer und entzündete das Stroh für sie. Sie gab dem Rad einen Stoß. Eine Flammenspur fegte ins Tal hinab und erhellte den Weg mit feurigem Atem. Dietlind machte ihren Gefühlen durch lautes Schreien Luft, was Gislher so ansteckend fand, dass er begeistert mitschrie.
Der pluostrari hatte Gewürze ins Feuer geworfen, die angenehme Gerüche verbreiteten. Jetzt ließ er einen Kessel mit einem aromatisch riechenden Getränk herumgehen, von dem jeder einen Becher voll nehmen durfte. Die Zutaten dafür waren ein Geheimnis der Priester. Die Mixtur öffnete die Sinne für den Zauber und die Schönheit der Mittsommernacht. Gislher ließ Dietlind den Vortritt und trank anschließend selbst. Der Geschmack war streng, aber nicht unangenehm. Mit einem wohligen Gefühl plumpsten die beiden ins Gras und blickten in den Himmel.
»Was wünscht Ihr Euch am meisten im Leben?«, fragte Dietlind.
Gislher kaute an einem Grashalm. »Ich möchte so werden wie Sigfrid«, erwiderte er. »Ich möchte meiner Sippe Ehre machen. Die Skopen sollen von mir singen.« Im nächsten Jahr, wenn er dreizehn war, würde er auf dem Thing sein eigenes Schwert erhalten und als waffenfähiger Krieger in den Sippenverband aufgenommen werden. Ein Jahr noch! Es fiel ihm schwer, so lange zu warten. »Und Ihr? Was ist Euer größter Wunsch?«
»Ihr werdet mich auslachen, wenn ich es sage.«
»Das werde ich nicht.«
»Ich … ich möchte einmal, nur ein einziges Mal eine Nymphe sehen«, platzte sie heraus. »Man sagt, sie seien schön und zerbrechlich. Wie oft schon habe ich einem Baum oder einem Strauch Opfer gebracht, aber noch nie hat sich mir eine gezeigt.«
»Mir auch nicht«, sagte Gislher, »aber Ivo, unser Stallbursche, ist einer Oreade begegnet, einer Bergnymphe. Er erzählt oft davon.«
Beide schwiegen eine lange Zeit. Sie hatten die Augen geschlossen und sogen die verheißungsvolle Atmosphäre dieser besonderen Nacht in sich auf. Ein Versprechen lag in der Luft, die Kraft der Erneuerung. Dietlind fasste es als Erste in Worte. »Wenn die Sonne zurückkehrt, sind wir nicht mehr dieselben.«
»Wir werden etwas Neues sein, etwas, dessen Größe und Bedeutung wir noch gar nicht kennen.«
»Auf dem Weg hierher trafen wir einen Mann, der den ganzen Tag auf einer Säule stand und vom Gott der Christen sprach und die alten Bräuche verfluchte. Ich begreife nicht, warum sie Sonnenwendfeiern für etwas Schlechtes halten. Sie fühlen nicht die Bedeutung dieser Nacht, oder?«
»Sie leugnen sogar, dass Bäume und Quellen eine Seele haben. Ist das nicht töricht? Jeder, der einen Baum berührt, kann sein megin spüren.«
»Es ist ein seltsamer Glaube, dem sie folgen. Der Mann auf der Säule hat mir Angst gemacht. Er war so unerbittlich.«
Gislher wusste, was sie meinte. Die Strenge der Christenprediger machte ihn immer schaudern. »Ihr Glaube muss ohne jede Freude und ohne Ekstase sein. Sie lieben das Leben nicht.«
»Dabei ist es voller Schönheit! Es gibt so viel zu sehen und zu erfahren, so viel, was ich lernen möchte! Sogar Pflanzen und Sträucher verraten einem ihre Geheimnisse, wenn man genau hinhört.«
»Sie sprechen zu Euch?«
Dietlind errötete. »Vater sagt, ich besäße Kräuterheil. Mutter lehrt mich alles, was sie darüber weiß, aber auch sie meint, sie könne mir eigentlich nichts mehr beibringen.«
»Ich weiß nicht, was für eine Art Heil ich besitze«, erwiderte Gislher nachdenklich. »Sicher kein Königsheil. Trotzdem, ich fühle, dass die Nornen Großes mit mir vorhaben. Im nächsten Jahr werde ich auf dem Thing als freier Krieger in die Sippe aufgenommen. Dann bin ich ein Mann und werde alles daran setzen, so viel Ruhm zu erwerben wie Sigfrid.«
»Wird König Gunter Euch Euer Schwert überreichen?«
Der Niflunge nickte stumm.
»Ihr vermisst Euren Vater, nicht wahr?«
Gislher beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Für ein Mädchen verstand sie ziemlich viel. »Ich wünschte, er könnte mir mein Schwert geben«, vertraute er ihr an. »Ich liebe meinen Bruder, aber es ist eben nicht dasselbe.«
»Wisst Ihr schon, wen Ihr zur Frau nehmen werdet?«
Gislher wurde rot. Gespräche über Eheverbindungen machten ihn verlegen. »Nein. Und ich bin froh darüber. Ich will überhaupt nicht heiraten.«
»Ich schon. Wenn Liebe zwischen mir und meinem Mann ist, wie zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Ich glaube, dann kann man alles erreichen, was man will. Das megin aus der Verbindung eines Mannes und einer Frau ist viel stärker als die beiden einzelnen megins zusammen.«
»Ja, jeder kann sehen, dass Eure Eltern großes Heil miteinander haben.« Der Rausch des Trankes stieg Gislher allmählich zu Kopf. Er blinzelte. Die Sterne schienen klarer und näher als zuvor.
»Wie nah sie sind!«, seufzte Dietlind, als hätte sie seine Gedanken erraten.
Gislher blickte sie an, und seine durch den Trank geschärften Sinne sahen sie in einem goldenen Licht. Sie schien von innen heraus zu strahlen. Schwerfällig drehte er den Kopf. Er hatte die vielen Menschen, die mit ihnen das Sonnenwendfest feierten, völlig vergessen, aber da waren sie, Männer und Frauen, und jeder von ihnen strahlte dieses goldene