Durchschnittsbürger oft weit bessere Quellen als Politiker, die Journalisten natürlich auch manipulieren wollen. Die Grundvoraussetzung der Sprachkenntnis haben selbst Vertreter renommierter angelsächsischer Medien oft nach Jahren am Balkan noch nicht erfüllt, wie ich aus eigenem Erleben weiß. Die Hochachtung, ja Ehrerbietung, die diesen Medien teilweise entgegengebracht wird, habe ich weder teilen noch verstehen können. Darüber hinaus habe ich bei Pressereisen am Balkan immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich Journalisten schlecht oder gar nicht vorbereiten; das gilt auch für grundlegende Kenntnisse der Politik der EU gegenüber dem Westbalkan. Dieses Verständnis fehlte etwa westlichen Kollegen bei einer Pressereise nach Montenegro im Juni 2009, obwohl dies nicht an die Kenntnis einer Balkan-Sprache gebunden ist. Sich mit westlichen Diplomaten und Botschaftern zu treffen oder mit diesen – vielleicht noch von daheim aus – zu telefonieren, ist jedenfalls zu wenig, zumal auch am Balkan Vertreter der internationalen Gemeinschaft dieselben Schwächen aufweisen, die ich bei Journalisten erlebt habe. Die Basis seriöser Berichterstattung besteht in Sprach- und Landeskenntnis, im Leben im Zielland und in der Einhaltung journalistischer Grundprinzipen, die sehr klar und einfach sind, offensichtlich aber nichtsdestotrotz zu oft missachtet werden.
Doch selbst wenn die Sprachkenntnis und der Wille, hart zu arbeiten, gegeben sind, bestehen bei der Beurteilung der Zielländer eines Korrespondenten zwei große Herausforderungen: die eine ist das Informationsproblem, die andere der Zugang zu Entscheidungsträgern. Das Informationsproblem besteht zum einen in der enormen Menge zugänglicher Quellen. Jeden Tag erscheinen in Serbien zehn Tageszeitungen, die mir der Austräger um sechs Uhr in der Früh bringt. Mit dem Lesen dieser Blätter beginnt mein Arbeitstag; doch auch in allen anderen Balkanländern,3) die in meinen Zuständigkeitsbereich fallen, erscheinen Tageszeitungen. Hinzu kommen zahlreiche Wochenmagazine, Agenturen, elektronische Medien und die regelmäßigen Berichte meiner Produzenten in all diesen Ländern. Am Laufenden zu bleiben ist somit harte Arbeit, denn die Aufgabe eines Journalisten ist sehr oft die Beschreibung komplexer Sachverhalte unter enormem Zeitdruck und bei stets zu geringer Sendezeit.
Doch noch wichtiger als die Informationsverarbeitung ist die richtige Bewertung der Informationen. So wäre vielleicht der Anschlag in New York am 11. September 2001 zu verhindern gewesen, hätte jemand die Information richtig bewertet, die darin bestand, dass jedenfalls einer Attentäter bei seiner Pilotenausbildung offensichtlich keinen Wert darauf legte, sein Flugzeug auch landen zu können. Die richtige Beurteilung der Lage erfordert auch einen entsprechenden Zugang zu Entscheidungsträgern und ihrer Umgebung, die allerdings ebenfalls Fehleinschätzungen unterliegen können. So soll der serbische Ministerpräsident Vojislav Koštunica bis zum Vorliegen des Ergebnisses des Unabhängigkeitsreferendums nicht geglaubt haben, dass sich Montenegro tatsächlich von Serbien lösen wird. Ein Fehlschluss, dem ich nicht unterlegen bin. Trotzdem ist es wichtig, im entscheidenden Augenblick, die richtige Telefonnummer wählen zu können. Doch Kontaktpflege zu Entscheidungsträgern ist im Ausland noch viel schwieriger, weil Korrespondenten für Politiker und führende Unternehmer natürlich weniger relevant sind als die Medien des eigenen Landes.
Trotzdem sind Journalisten in der Regel selten zugegen, wenn hinter verschlossenen Türen wichtige Entscheidungen fallen. Ein Paradebeispiel dafür war und ist die Suche nach Radovan Karadžić und Ratko Mladić, den wichtigsten mutmaßlichen Kriegsverbrechern im ehemaligen Jugoslawien. Von Radovan Karadžić behauptete nicht einmal mehr das Haager Tribunal, dass er in Serbien sei; zum Glück bin ich Karadžić, der als Wunderheiler Dr. Dabić in Serbien öffentlich auftrat, nie begegnet, erkannt hätte ich ihn sicher nicht. Von seiner Verhaftung wurden alle überrascht, denn derartige Aktionen müssen geheim bleiben, damit sie erfolgreich sein können. In diesem Sinn werden wir alle auch von einer Verhaftung von Ratko Mladić überrascht sein, sollte sie gelingen. Doch relevante Informationen über seinen Verbleib haben wir Journalisten nicht, oder diese Informationen sind bereits einige Jahre alt. Nicht einmal seinen möglichen Gesundheitszustand kennen wir, denn seine militärische Krankenakte hat das Tribunal zwar erhalten, aber nie veröffentlicht. Mladićs Gesundheitszustand ist jedoch wichtig für die Frage, in welchem Ausmaß der Gesuchte (ärztliche) Leistungen in Anspruch nehmen muss, die zu seiner Verhaftung führen können. Alle Beiträge über Mladić aller Journalisten beruhten somit bisher entweder auf einem Faktenwissen, das schon einige Jahre alt ist, oder auf Spekulationen, die aber durchaus eine reale Grundlage haben können.
Unser Wissen ist begrenzt, und das Wissen darum ist ganz im Sinn von Sokrates der beste Selbstschutz vor Überheblichkeit und Irrtümern. Daher habe ich mich stets gegen die Bezeichnung „Balkan-Experte“ gewehrt, weil ich dem Experten-Unwesen sehr kritisch gegenüberstehe. In unserer säkularisierten Welt hat der Experte den Kirchenmann als „unfehlbare Instanz“ abgelöst. Daher gibt es Experten für alle Lebenslagen oder Personen, die sich von den Medien zu diesen gern stempeln lassen, weil Eitelkeit eine zutiefst menschliche Untugend ist. Diese Feststellungen sollen den Leser nicht dazu verleiten, das Buch beiseite zu legen oder sich darüber zu ärgern, das Buch gekauft zu haben. Vielmehr soll der Leser wissen, dass es mit journalistischer Demut, nach bestem Wissen und Gewissen und nach zehnjährigem Aufenthalt am Balkan geschrieben wurde, über den ich bisher mehr als 3.200 Radio- und TV-Beiträge sowie Artikel für Tageszeitungen verfasst habe. Darüber hinaus war ich bestrebt, den Leser hinter die Kulissen blicken zu lassen und ihm einen Eindruck über die Tätigkeit eines Korrespondenten zu vermitteln.
Ein Bonmot besagt, dass Autoren so vielen Personen wie möglich danken sollen, damit die Bedankten eine moralische Verpflichtung fühlen, das Buch zu kaufen, und so den Absatz steigern. An diesen „Grundsatz“ habe ich mich nicht gehalten. Mein Dank gilt jedoch dem Molden-Verlag und seiner Lektorin Marion Mauthe für die Betreuung und die stete Aufmunterung, die Arbeit zu einem guten Ende zu führen. Von Herzen danke ich auch meiner jüngeren Tochter Immanuela, die ebenfalls alle Kapitel gegengelesen hat. Zu Dank verpflichtet bin ich natürlich meinem Arbeitgeber ORF, der nicht zuletzt durch sein Korrespondentennetz zeigt, dass er den Auftrag eines öffentlich-rechtlichen Mediums ernst nimmt. Mein herzlicher Dank gilt auch allen meinen Mitarbeitern im Büro Belgrad sowie in meinen Zielländern. Gemeinsam haben wir Herausforderungen bestanden und Gefahren gemeistert, von denen auch dieses Buch berichtet, die jedoch nur jener wirklich ermessen kann, der selbst „In den Schluchten des Balkan“ unterwegs war oder in anderen Krisenregionen als Korrespondent tätig gewesen ist.
Belgrad, im Herbst 2009Christian Wehrschütz
Anmerkungen
1) Die geläufige Übersetzung von „oîda ouk eidōs“ trifft nicht den Sinn der Aussage. Wörtlich übersetzt heißt der Spruch „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Das ergänzende „-s“ an „nicht“ ist ein Übersetzungsfehler, da die Phrase „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ auf Altgriechisch dann „οἶδα οὐδὲν εἰδώς (oída oudén eidós)“ heißen würde. Das geflügelte Wort ist als Verkürzung der Verteidigungsrede des Sokrates entlehnt, die Platon in seinem Werk „Apologie“ überliefert hat. Wörtlich heißt es dort:
„Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen, allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht, ich scheine also um dieses Wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“
Die Apologie und andere Werke Platons habe ich selbst gelesen. Den Hinweis auf die fehlerhafte Übersetzung verdanke ich folgender Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Ich_weiß, _dass_ich_nichts_weiß!
2) Zu diesen Kennern zähle ich Andreas Graf Razumovsky und Viktor Meier. Die Werke beider Journalisten, „Ein Kampf um Belgrad“ und „Wie Jugoslawien verspielt wurde“, kann ich dem interessierten Leser nur empfehlen.