bzw. systemisch und multifaktoriell verursacht sind und daher nicht klar identifizierbaren Akteuren zugeschrieben werden können bzw. klar identifizierbaren Opfern. Wäre die Entscheidung für eine Rechte-Theorie im Gegensatz zum Pflichten-Ansatz nur eine Frage des Vokabulars, dann gäbe es kaum einen Grund für die Bevorzugung der Pflicht. Doch die beiden Perspektiven sind eben nicht gleichwertig. Dafür gibt es meiner Ansicht nach zwei Gründe.
Erstens unterscheiden sich Rechte und Pflichten in ihrer Reichweite. Während es keine Rechte ohne die zugehörigen Pflichten geben kann (also Anspruchsrechte: die einfachen bürgerlichen „Freiheiten“ lasse ich hier weg), kann es durchaus Pflichten ohne zugehörige Rechte geben. Im traditionellen ethischen Denken (wozu auch das christliche zählt, das Naturrecht, das Kantische, vom utilitaristischen Denken ganz zu schweigen) handelt es sich bei diesen Pflichten um unvollkommene Verpflichtungen. Unvollkommen heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass sie etwa keine echten Pflichten darstellen würden und daher fakultativ wären. Unvollkommen sind sie nur insofern, als nicht klar ist, für wen jeder Träger einer solchen Verpflichtung seine Pflicht erfüllen muss. Konsequenterweise kann die Erfüllung einer solchen Pflicht dann nicht als Recht eingefordert werden. Locke setzte auf ein „Naturrecht“ als vertragliche Verpflichtung einer Gemeinschaft, nicht als grundlegendes Menschenrecht. Dies liegt vor allem daran, dass er dabei die unvollkommenen Pflichten nicht außen vor ließ: Obwohl sein primäres Interesse der Gerechtigkeit gilt, geht er von einem Standpunkt aus, wo „die großen Leitsätze der Gerechtigkeit und Nächstenliebe“40 zueinander passen.
Im Gegensatz dazu verbannt das zeitgenössische liberale Denken unvollkommene Pflichten an den Rand. Viele schließen alles außer der Gerechtigkeit aus ihrer ethischen Perspektive aus und zeigen sich stolz auf ihre Haltung des „Nichtwissens, was das Gute für den Menschen sei“. Das aber stellt die Liberalen vor ein Dilemma. Entweder müssen sie zeigen, dass traditionell für unvollkommen angesehene Pflichten in Wirklichkeit vollkommene Pflichten darstellen, die für die Gerechtigkeit notwendig sind, woraus sich Rechte an den jeweiligen Gegenpart ableiten. Diese Meinung vertreten viele „Wohlfahrts“-Liberale – bis zu einem gewissen Punkt. Oder sie stellen sich auf den Standpunkt der Laissez-faire-Liberalen und werten vieles, was traditionell als ernsthafte Verpflichtung galt, als reine Vorliebe für einen bestimmten Stil, womit eine Zuwiderhandlung in den Rang eines bloß „unartigen“ oder „unanständigen“ Verhaltens rückt. Diese Art der Trivialisierung lässt eine theoretische Perspektive erkennen, der es an den grundlegenden Mitteln fehlt, um zu unterscheiden zwischen schlichten Banalitäten, die tatsächlich nur eine Frage des Stils oder der individuellen Vorlieben sind, und verpflichtenden Handlungen, die nicht auf die Einhaltung von Rechten zurückgehen, sowie supererogatorischen Fällen von nahezu heiligmäßigem oder heldenhaftem Verhalten.
Eine eingeschränkte ethische Geltung ist nicht der einzige Verlust, der aus der Bevorzugung des Rechte- gegenüber dem Pflichtenansatz entsteht. Der zweite Nachteil ist, dass dabei eine passive statt einer aktiven Perspektive in den Mittelpunkt rückt. Wenn wir Rechte fordern, dann nehmen wir natürlich an, dass es Akteure gibt, doch unser wichtigstes Anliegen hierbei sind die Ansprüche auf das, was wir von anderen erhalten oder zugestanden bekommen müssen. Wenn wir uns hingegen an Pflichten ausrichten, müssen wir uns der Frage stellen, was tatsächlich getan werden muss.
Es liegt eine gewisse Gefahr darin, nur danach zu fragen, was Menschen zusteht bzw. was andere uns schulden. Dahinter steht ein Konzept, welches das Selbst und die anderen Menschen nur als Almosenempfänger oder Opfer sieht, nicht als handelnde Akteure oder Bürger. Diese Blickrichtung lenkt unsere Aufmerksamkeit weg von den Handlungsmöglichkeiten. Jedem ist klar, welcher Reiz in Kennedys Aufforderung liegt: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Abstrakter ließe sich das formulieren als: Frage lieber „Was können oder sollten wir tun?“ und verweise die Frage: „Was können oder sollten die anderen tun?“ auf den zweiten Platz.
Die zentrale Rolle, die Entschädigungsrechte in der heutigen Diskussion über Menschenrechte spielen, spiegelt die Perspektive des Almosenempfängers wider, die heute in allen Rechtetheorien aufscheint. Wenn wir uns als passiv sehen und ganz besonders, wenn wir Angst haben, von anderen geschädigt oder verletzt zu werden, fangen wir an, mit dem Finger auf das zu deuten, was uns zusteht. Erst dann wird die Frage der Rechte unsere wichtigste Sorge. Rechte als grundlegend zu betrachten ist eine Opferperspektive, die am Ende auf eine Form rektifikatorischer Gerechtigkeit verweist, die vor allem für Opfer interessant ist, nämlich die Entschädigung.
Entschädigungen lassen sich institutionalisieren, ob nun der entstandene Schaden auf einen Rechtsverstoß eines identifizierbaren Akteurs zurückgeht oder nicht. Schließlich gibt es ja auch Maßnahmen, um Bauern bei Dürreschäden zu subventionieren oder Verbrechensopfern Hilfen zukommen zu lassen. Im ersten Fall gibt es keinen Täter, im zweiten kann der Täter durchaus unbekannt bleiben. In keinem der beiden Fälle werden die Verpflichtungen aus dem Schaden von dem getragen, der ihn angerichtet hat. Ein ethischer Blick, der vom Standpunkt des passiven Opfers ausgeht, nimmt nur allzu leicht erlittenen Schaden als ausreichenden Anspruchsgrund für eine Entschädigung, ganz egal, ob der Verantwortliche identifiziert werden kann und ob die Kosten für die Entschädigung von jenen getragen werden, die den Schaden verursacht haben. So lassen sich die Einwände der Laissez-faire-Liberalen gegen bestimmte Formen der Entschädigung bzw. ihre Begeisterung für andere teilweise auch deuten als Ablehnung der Opferperspektive, für die es keine Rolle spielt, woher die Entschädigung kommt. Es ist eine Sache, wenn die Utilitaristen in der Zuweisung von Hilfspflichten keinerlei Rücksicht nehmen auf Fehlverhalten oder Rechteverstöße: Man weiß ja, dass utilitaristische Konzepte von rektifikatorischer Gerechtigkeit sich ausschließlich nach vorn orientieren und dabei ahistorisch bleiben. Doch Rechtetheoretikern, vor allem solchen, die für Entschädigungsrechte eintreten, können diese Dinge konsequenterweise nicht gleichgültig sein.
Laissez-faire-Liberale lehnen die Perspektive des Almosenempfängers ja auch nicht völlig ab. Wie die „Wohlfahrts“-Liberalen sehen sie eher Rechte als Pflichten für grundlegend an. Ihre erste Frage ist daher: „Was steht mir zu?“ Und nicht: „Was sollte ich tun?“ Ein häufiger Kunstgriff bei der Konstruktion solcher Rechteansätze ist es, die größtmögliche Zahl von Freiheiten herauszufiltern, die wirklich allen zugestanden werden können. Dennoch erstaunt es, dass die Laissez-faire-Liberalen angesichts der seriösen und kompetenten Kritik bzw. der Stärke der vorgebrachten Argumente trotzdem die Auffassung vertreten, dass Individuen genau die Art von Akteur sein können, die ihr ethischer Ansatz erfordert. Der Ursprung dieser Auffassung könnte meiner Ansicht nach darin zu suchen sein, dass die tatsächlichen Möglichkeiten und Nicht-Möglichkeiten jener, die zum Handeln aufgefordert sind, sowie ihr Anteil an den vorangegangenen Taten meist im Dunkel bleiben, wenn man von der Perspektive des Opfers ausgeht. Die Konzentration darauf, was empfangen werden sollte, hat vielen Liberalen ermöglicht, die Quellen der Entschädigung nicht zu benennen.
All das wäre weiter nicht wichtig, wenn die Liberalen gar keine andere Wahl hätten, als ihre Argumente auf die Perspektive des Empfängers zu gründen und menschliche Pflichten aus den Menschenrechten abzuleiten. Doch das Gegenteil trifft die Wahrheit schon eher. Da es kein Maß für das Handeln gibt, lassen sich alternative Freiheiten oder breiter aufgefasste Rechte nicht als wichtiger oder unwichtiger hierarchisieren. Versuche, die Freiheit mit der größten Reichweite zu identifizieren, die der Freiheit für alle am nächsten kommt, oder den maximalen Satz von Rechten, die universell gelten können, müssen fehlschlagen, weil beide Ansätze radikal unterbestimmt sind. Im Gegensatz dazu trifft das auf Versuche, Handlungsprinzipien festzustellen, die universell gelten können, sowie die zugehörigen Pflichten nicht zu. Die Verlagerung der Perspektive von Rechten und Empfängeransprüchen hin zu Pflichten und aktivem Tun verhindert ja nicht, dass wir über menschliche Rechte reden können: Sie liefert diesen vielmehr ein festeres Fundament. Die Perspektive der Rechte ist ja in der Perspektive der Pflichten nicht unterdrückt, sondern „aufgehoben“41.
Drittens: Da Pflichttheorien von einer Perspektive des aktiven Handelns ausgehen, müssen sie den partiellen, verflochtenen und sozial konstruierten Charakter des menschlichen Handelns berücksichtigen (statt ihn einfach wegzuerklären). Rechtetheoretiker geraten oft in begriffliche Untiefen, wenn es um die Frage geht, ob bestimmte Schäden wie Armut