sie hat ihren Weg in die Welt der Sprichwörter gefunden. Viele Entwicklungshilfeorganisationen haben sich ein chinesisches Sprichwort zum Motto gewählt: „Gib einem Menschen einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Bring ihm das Fischen bei, und du ernährst ihn für das ganze Leben.“ Obwohl diese Position traditionell und vertraut ist, wird sie von heutzutage favorisierten ethischen Theorien kaum unterstützt. Utilitaristische Positionen verfolgen das Streben nach Glück, ohne sich um die Erfüllung von Bedürfnissen zu bemühen. Die Menschenrechtsperspektive versäumt es, eine Pflicht zur Unterstützung der Bedürftigen zu begründen. Daher möchte ich diese kurze Skizze mit einigen polemischen Fragen abschließen und nicht mit einem Gefühl der Gewissheit. Wie und warum haben wir es möglich gemacht, dass vage Bilder von maximalem Glück und selbstbezogene Visionen von der Einforderung von Menschenrechten unser Verständnis für so zentrale ethische Elemente wie Gerechtigkeit, Wohltätigkeit und Respekt für die Autonomie des Menschen trüben? Warum sind so viele Menschen sich sicher, dass unsere Verpflichtung dem Anderen gegenüber sich darin erschöpft, dass wir uns nicht in ihre Angelegenheiten einmischen – und letztlich nichts tun?
Wenn menschliche Pflichten sich auf die Forderung nach Achtung vor und Sorge für die Autonomie der anderen gründen, dann finden wir vielleicht eine weitere Aussage von Simone Weil interessant:
Diese Verpflichtung ist dann erfüllt, wenn die Achtung einen tatsächlich und nicht nur vorgeblich wirksamen Ausdruck findet; was nur auf dem Wege über die irdischen Bedürfnisse des Menschen geschehen kann. Das menschliche Gewissen hat diesbezüglich immer unveränderlich gleich geurteilt. Schon die Ägypter vor Tausenden von Jahren glaubten, eine Seele könne nach dem Tode keine Rechtfertigung erlangen, wenn sie nicht sagen könnte: „Ich habe niemand Hunger leiden lassen.“ Alle Christen müssen befürchten, eines Tages aus Christi eigenem Munde die Worte zu vernehmen: „Ich habe Hunger gehabt, und du hast mir nicht zu essen gegeben.“ Jeder stellt sich den Fortschritt in erster Linie als den Übergang zu einem gesellschaftlichen Zustand vor, in welchem die Menschen nicht mehr Hunger leiden.28
Um diesen Sprung zu vollziehen, reicht es tatsächlich nicht aus, dem Bettler am Tor eine Mahlzeit zu geben. Die Chancen in der Moderne sind vielfältiger. Daher ist politisches Handeln ebenso – ja vielleicht noch mehr – gefragt als ein rein individuelles. Natürlich kann kein Mensch alles tun. Doch das wird ohnehin nur jene treffen, die sich eine ausschließlich individuelle Konzeption von menschlichem Bemühen und Erfolg zueigen gemacht haben. Wenn wir im Hinterkopf behalten, dass viele menschliche Bemühungen und Erfolge nicht individuell sind, werden wir das weiter nicht problematisch finden. Wir dürfen also schlussfolgern, dass kein Individuum und keine Institution daran gehindert werden kann, Entscheidungen, die in ihrer Macht stehen, so zu treffen, dass sie die Pflichten gegenüber den Hungernden erfüllen helfen, statt sie zurückzuweisen.
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Recht auf Entschädigung29
Gesetzliche Rechte und Grundrechte auf Entschädigung
In den Debatten liberaler Kreise wurde das Recht auf Entschädigung häufig zitiert und diskutiert. Dabei wird immer wieder das Argument vorgebracht, dass ein grundlegendes (natürliches, menschliches oder moralisches) Recht auf Entschädigung anerkannt werden sollte, weil dies viele Leben verbessern würde. So könnte man in entwickelten Gesellschaften als Wiedergutmachung für die frühere Vorenthaltung gleicher Chancen ein Recht auf Sonderbehandlung in der Ausbildung und im Beruf geltend machen. Oder man könnte davon ausgehen, dass Ungerechtigkeiten aus der kolonialen Vergangenheit durch eine Sonderbehandlung betroffener Drittweltländer in puncto Entwicklungshilfe ausgeglichen werden sollten.
Die Vorstellung von gesetzlichen Rechten auf Entschädigung leuchtet uns unmittelbar ein. Solche Gesetze würden einen (ansatzweisen) Ausgleich für erlittene Schäden vorsehen. Der Schaden, der dadurch behoben werden soll, kann, muss aber nicht durch Fehlverhalten verursacht worden sein. Er kann auch auf Fahrlässigkeit, Zufall oder natürliche Ursachen zurückgehen. Rechtlich gesehen hängt die Entschädigung nicht immer davon ab, dass das Opfer einen Schaden erlitten hat, der sich auf das Fehlverhalten eines anderen zurückführen lässt. Auch werden nicht immer diejenigen, die sich falsch verhalten haben, mit den Kosten der Entschädigung belastet. So gibt es Versicherungspolicen, die vor Schäden durch Katastrophen oder Fahrlässigkeit schützen. Es gibt gesetzliche Rechte, die den Opfern von Gewalttaten Entschädigung zusprechen, aber auch Personen, deren Eigentum beschlagnahmt oder beschädigt wurde, Opfern von übler Nachrede und Kunstfehlern sowie Opfern von Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben. Juridische Entschädigungsrechte sind eine durchaus übliche Form, dem Leid von Menschen zu begegnen, die in irgendeiner Form geschädigt wurden, ob dieser Schaden nun auf die (kriminellen) Taten anderer zurückzuführen ist, auf ihre eigene Fahrlässigkeit oder eine Naturkatastrophe. Die Existenz solcher Rechte ist kein Beleg dafür, dass das Recht auf Entschädigung in irgendeiner Weise ein Grundrecht darstellen würde. Gesetzliche Entschädigungsrechte haben nicht immer eine moralische Begründung. Und selbst dann steht dahinter nicht unbedingt ein Grundrecht auf Schadensersatz, sondern häufig ein anderer Anspruch oder eine Institution. Und doch wird von vielen das Recht auf Entschädigung als Grundrecht behandelt. Erstaunlicherweise haben diesen Weg einige Libertäre (Laissez-faire-Liberale)30 und – weniger überraschend – viele Wohlfahrtsliberale (die Parteigänger der sozialen Gerechtigkeit) eingeschlagen. Wo dieses Recht allerdings endet, darüber sind die beiden Gruppierungen sich alles andere als einig.
Seit den 1970er-Jahren konzentriert sich die Diskussion über das Recht auf Entschädigung häufig auf Fälle, in denen Armut und Diskriminierung die Chancen einer bestimmten sozialen Gruppe – in den entwickelten Ländern beispielsweise von Frauen und ethnischen Minderheiten – auf Ausbildung und Arbeit angeblich gemindert haben. Die vorgeschlagenen Abhilfestrategien, die meist mehr diskutiert als wirklich umgesetzt wurden, beinhalteten verschiedene Maßnahmen zur Ausbildung und Arbeitsbeschaffung, die die vorher ungerecht verteilten Chancen wettmachen sollten. Das Recht auf Entschädigung wurde gerechtfertigt – oder bestritten – als Möglichkeit, für vergangenes Fehlverhalten Wiedergutmachung zu leisten.
In der Folge rückten internationale Maßnahmen kompensatorischer Gerechtigkeit in den Fokus der Debatte. Eine zentrale Frage war dabei, ob Wiedergutmachung auch den Nachkommen jener Menschen zusteht, die während und nach der europäischen Invasion der nicht-europäischen Welt31 zu Schaden kamen. Häufig geht man davon aus, dass zu den Opfern der einstigen europäischen Expansion auch die Nachkommen jener Menschen zählen, die früher versklavt wurden (d. h. Bürger schwarzer Hautfarbe in den USA), in ihrem eigenen Land zur Minderheit wurden (Aborigines in Australien, Maori in Neuseeland und Indianerstämme in Kanada und den USA) sowie die Nachkommen von Menschen, die über Jahrzehnte kolonialer Herrschaft unterworfen waren, aber von europäischen Siedlern nicht vertrieben worden waren (die heutigen Bewohner ehemaliger Kolonien). Doch die Argumente für ein Recht auf Entschädigung erfahren weitgehend Widerspruch.
Wiederherstellung, Strafe und Entschädigung
Entschädigung ist immer eine sekundäre Reaktion auf eine vorausgegangene Schädigung. Viele Liberale sind der festen Auffassung, dass nur Schäden, die aus der Verletzung von Rechten entstehen, ein Recht auf Entschädigung begründen. Verlust oder Schaden, der selbst verantwortet ist oder auf natürliche Ereignisse zurückgeht bzw. auf andere Vorkommnisse, die keine Rechtsverletzung darstellen, unterliegen nicht dieser Rechtsauffassung. Wenn keine spezifischen gesetzlichen oder sozialen Absprachen bestehen, in solchen Fällen Entschädigung zu leisten, haben die Geschädigten keinen Anspruch an andere, so diese ihre Rechte nicht verletzt haben. (Manche der Autoren weigern sich sogar, Menschen, die eine Schädigung erfahren haben, welche keine Rechteverletzung darstellt, als „Opfer“ zu bezeichnen.)
Bevor wir uns mit dem Recht auf Entschädigung beschäftigen können, müssen wir uns fragen, was Entschädigung eigentlich ist und wie sie sich von anderen Formen rektifikatorischer Gerechtigkeit unterscheidet. Denn selbst wenn Rechte verletzt wurden, ist die Entschädigung