Onora O'Neill

Gerechtigkeit über Grenzen


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einschreiten können, Wünsche erfüllen (auch wenn diese Wünsche nicht unbedingt echte Bedürfnisse darstellen). Oder ob wir unsere Hilfeleistungen auf die Bedürftigsten konzentrieren sollten. Tatsächlich wissen wir häufig zu wenig, um auch nur exakt vorhersagen zu können, welche Maßnahmen der öffentlichen Hand den Ärmsten zugutekommen würden.

      Und selbst wenn die Utilitarier jene exakten Methoden zur Vorhersage und Kalkulation entwickeln würden, die im Moment noch fehlen, könnte es sein, dass die Resultate den Armen keine Hilfe bringen. Denn utilitaristisches Denken legt keinen sonderlichen Wert auf menschliche Bedürfnisse. Das Glück, das aus der Wunscherfüllung für die Menschen in unserem Umfeld entsteht – selbst wenn dies Wünsche nach Gütern sind, die sie nicht wirklich brauchen –, zählt genauso viel oder mehr als das Glück, das aus der Beendigung echten Leids entsteht. Alles, was zählt, ist die Intensität des Wunsches. Wenn die Bedürftigsten so schwach und apathisch sind, dass sie keine starken Wünsche mehr haben oder sich Dinge wünschen, die in ihre Realität passen, dann könnten im utilitaristischen Kalkül ihre Bedürfnisse sogar eher weniger zählen als mehr. Außerdem wissen wir, dass Wohltätigkeit, die zu Hause anfängt, wo die Wünsche der anderen für uns deutlich sichtbar sind, so viele Empfänger findet, dass sie auch zu Hause endet. Wenn Bedürfnissen im ethischen Denken nicht bestimmte Prioritäten zugewiesen werden, gehen sie möglicherweise unter.

      Das utilitaristische Denken lässt also viele Probleme ungeklärt und ungelöst. War es wohltätig, riesige Summen an Entwicklungshilfe als Darlehen zu vergeben, obwohl die steigenden Zinssätze einen Großteil der Exporteinnahmen armer Länder auffressen? Die aktuell reichen Länder haben sich entwickelt zu einer Zeit, als die Zinssätze niedriger und stabiler waren: Heute aber kontrollieren sie die Grundregeln einer Weltwirtschaft, die den armen Ländern nicht dieselben Entwicklungschancen lässt. Hat es das Glück maximiert, den armen Ländern unter diesen Bedingungen Darlehen zu geben? Oder wäre das Glück größer, wenn sie eher kleinteilige Investitionen vor Ort genützt hätten? Oder würden die Kosten des so verlangsamten Wachstums das Elend im Land allgemein vergrößert haben, was sich mit Darlehen, selbst zu höheren Zinssätzen, hätte vermeiden lassen? Das sind bittere Fragen, und ich kenne darauf keine allgemeine Antwort und auch keine länderspezifische Antwort. Ich werfe sie hier nur auf, um die Schwierigkeiten zu veranschaulichen, die sich bei der Entscheidung für richtige oder falsche Handlungsweisen ergeben, wenn man sich auf Vorhersagen und Kalkulationen über maximales Glück verlässt.

       Die Menschenrechtsbewegung

      Die Schwierigkeiten des utilitaristischen Denkens scheinen größtenteils aus seiner ehrgeizigen Zielsetzung zu erwachsen. Der Utilitarismus versucht, die ganze Moral einem einzigen Prinzip unterzuordnen. Dies soll gewährleisten, dass unser Handeln (und unsere Politik) nicht nur richtig, sondern auch das bestmögliche oder optimale ist. Daher könnte es eine Alternative sein, auf weniger abzuzielen. Zum Beispiel, indem man nach Prinzipien sucht, nach denen man Handlungen beurteilen kann, und dann jene ablehnt, die falsch sind, statt sich große Ziele zu setzen, die nur jene Handlungen und Strategien zulassen, die optimale Resultate bringen.

      Der am weitesten verbreitete zeitgenössische Ansatz dazu ist in der Menschenrechtsbewegung zu finden. Die Rhetorik der Rechte ist momentan allgegenwärtig. Wir kennen ihre Quellen, die größtenteils auf großen historischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts beruhen: Thomas Paines The Rights of Man und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den USA und in Frankreich. In jüngerer Zeit gründet sich der Anspruch auf Menschenrechte auf die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als man bemüht war, Grundlagen für eine neue internationale Ordnung zu schaffen und 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verfasste. In den folgenden Jahrzehnten gewann die Menschenrechtsbewegung weltweit an Einfluss, sodass heute ethische Forderungen in allen, den Menschen betreffenden Angelegenheiten als Frage des Respektierens von Rechten konstruiert werden.

       Freiheitsrechte und soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte

      Im Rahmen dieser Rechtedebatten gab es bis heute andauernde Meinungsverschiedenheiten über die Anzahl der Rechte, die als gerecht gelten dürfen. Einige Denker des rechten Flügels gehen, allgemein gesprochen, davon aus, dass es nur Freiheitsrechte gibt und dass unsere Pflichten im Grunde nur darin bestehen, die Freiheit des anderen nicht einzuschränken. Andere Vertreter der Rechte-Frage sind hingegen der Ansicht, es gäbe auch soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte, also positive Verpflichtungen, anderen zu helfen und beizustehen. Die Vordenker der Freiheitsrechte richten ihr Augenmerk auf ein angebliches Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, wozu auch eine vollkommen deregulierte Wirtschaft zählt. Aus dieser Perspektive wäre es ungerecht, sich in die Ausübung demokratischer politischer Rechte oder (voller) kapitalistischer Wirtschaftsrechte einzumischen oder sie gar zu beschränken. Wer hingegen für soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte eintritt, verweist auf das Recht auf Nahrung, Gesundheitsfürsorge oder Sozialleistungen. Da das Recht auf unregulierte ökonomische Aktivität sich damit nicht vereinbaren lässt, lehnen sie deregulierte wirtschaftliche Rechte ab.

      Diese Meinungsverschiedenheiten lassen sich nicht klären durch Rückgriff auf historische Schriftstücke. Die Erklärung der Vereinten Nationen war ein politischer Kompromiss und tritt rigoros für die Verleihung aller möglichen Rechte ein. Die Verfechter der Freiheitsrechte finden daher, dass diese Dokumente einige recht fadenscheinige Rechte begründen, die nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben und mit ihr auch nicht vereinbar sind. Doch wir sollten nicht vergessen, dass dieser politische Kompromiss tatsächlich von nahezu allen Regierungen akzeptiert wurde, die dann prima facie in ihre Institutionen vertragliche Verpflichtungen aufnahmen, die sowohl Freiheits- als auch soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte verleihen.

       Menschliche Rechte und menschliche Bedürfnisse

      Für die Armen ist es von entscheidender Bedeutung, welche Interpretation der Rechte als Leitlinie für politisches Entscheiden und Handeln akzeptiert wird. Wenn die Menschenrechte durchweg Freiheitsrechte wären, dann würde den Armen und Hungernden Gerechtigkeit widerfahren, wenn man eine Laissezfaire-Politik betreibt: In diesem Fall würden Freiheiten nicht eingeschränkt und der Gerechtigkeit wäre gedient. Diese Position kann sehr harte Konsequenzen haben, geht sie doch davon aus, dass die ökonomischen Auswirkungen von individuellem oder unternehmerischem Handeln, falls keine Freiheitsrechte verletzt werden, gar nicht ungerecht sein können, selbst wenn dieses Handeln die Wirtschaft zugrunde richtet, von der viele Menschen abhängen und damit auch viele Leben, und zudem keinerlei Netz aus sozialen oder „Wohlfahrts“-Rechten bereitstellt. Härten, die sich einstellen, weil Zinssätze und Rohstoffpreise schwanken, wären nicht ungerecht, wenn keinerlei Freiheiten eingeschränkt worden sind. Wenn aber die Menschenrechte bestimmte soziale und ökonomische Rechte einschließen, zu denen auch das Recht auf soziale Fürsorge gehört, dann fordert die Gerechtigkeit von uns, dass wir uns dieser Bedürfnisse annehmen. Zum Beispiel: Wenn es ein Recht auf Nahrung oder ein Existenzminimum gibt, dann wäre es ungerecht, diese Bedürfnisse nicht zu erfüllen und die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht zu regulieren, wenn diese die Erfüllung dieser Bedürfnisse verhindern. Doch jeder Anspruch auf soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte bleibt rein rhetorisch, wenn er sich nicht an einen Gegenpart richtet, dessen Pflichten gerechtfertigt sind und diese Pflichten auf Menschen bzw. Institutionen verteilt werden, die sie auch erfüllen können. Wo es aber um die realen Anforderungen der Rechte, für die sie eintreten, geht, reagieren viele Parteigänger der Menschenrechte eher ausweichend. Es ist bedeutsam und keineswegs belanglos, dass es keine Menschenpflichtsbewegung gibt.

       Rechte, Freiheiten und Autonomie

      Diese Auseinandersetzungen können nicht geklärt werden, ohne zu zeigen, welche Rechte es tatsächlich gibt. Die Pioniere des 18. Jahrhunderts gingen ja häufig davon aus, dass bestimmte Rechte sich von selbst verstehen. Dieser Anspruch erscheint heute fast unverschämt und kann die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verfechtern der verschiedenen Rechte nicht lösen. Ein häufig vorgebrachtes Argument, das diese Probleme lösen soll, geht davon aus, dass