Onora O'Neill

Gerechtigkeit über Grenzen


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weil es die traditionellen ökonomischen Strukturen zerstört und dadurch einen niedrigen Lebensstandard verursacht, und wenn dieses Unternehmen oder diese Unternehmensgruppe auch höhere Löhne zahlen oder der Gegend überhaupt fernbleiben könnte, dann verletzen die Menschen, die derartige Strategien festlegen, das Recht anderer Menschen, nicht getötet zu werden. Auslandsinvestitionen hingegen, die den Lebensstandard heben, selbst wenn er dann immer noch auf einem katastrophal niedrigen Niveau verharrt, können nicht für Todesfälle verantwortlich gemacht werden, weil sie ja keine vermehrten Todesfälle verursachen, außer unter bestimmten Umständen, wie das folgende Beispiel zeigt.

      Selbst wenn ein Unternehmen in einem unterentwickelten Land für höhere Löhne und Sozialleistungen sorgt und so die Lebenserwartung der Beschäftigten erhöht, dann kommt es häufig nur dann in die Gewinnzone, weil ihm Steuernachlässe gewährt werden. In diesem Fall wird das Unternehmen subventioniert durch das allgemeine Steueraufkommen eines Entwicklungslandes.14 Das Unternehmen trägt nichts zur Infrastruktur des Landes bei, zum Bau von Straßen, Häfen und Flughafen, obwohl es davon profitiert. Auf diese Weise haben sich in vielen unterentwickelten Volkswirtschaften durchaus entwickelte Enklaven gebildet, die ihren Standard auf Kosten der ärmeren Mehrheit erlangen. In solchen Fällen wirken die Strategien von Unternehmen und Regierung so zusammen, dass auf Kosten des Niedriglohnsektors ein Hochlohnsektor entsteht. In der Folge sterben vielleicht einige Menschen aus dem Niedriglohnsektor, die ihr Leben andernfalls nicht verloren hätten. Diese Menschen, wer auch immer sie sein mögen, werden getötet. Es geht also nicht um einen Fall von Sterbenlassen. Manche dieser Tötungen mögen sich rechtfertigen lassen – zum Beispiel, wenn ihre Zahl mehr als aufgewogen wird durch Leben, die der entwickelte Sektor zu retten vermag –, aber es handelt sich nichtsdestotrotz um Tötungen. Schließlich hätten die Opfer überleben können, wenn sie nicht durch die Transferzahlungen an den entwickelten Sektor ihre Lebensgrundlage verloren hätten. Allerdings gibt es in diesem Fall gewisse Unterschiede, was Management und Investoren angeht. Selbst wenn das Management sich für eine bestimmte Lohnhöhe und damit für entsprechende Überlebenschancen entscheidet, wissen die Investoren davon gewöhnlich nichts. Doch selbst in diesem Fall sind die Investoren für die Unternehmenspolitik verantwortlich. Sie üben diese Kontrolle meist nicht aus, doch das Gesetz gesteht sie ihnen zu. Sie entscheiden sich, ihr Geld in ein Unternehmen zu stecken, das Auslandsinvestitionen tätigt. Sie profitieren davon. Sie können – was andere nicht können – die Unternehmenspolitik grundlegend beeinflussen. Sicherlich macht sie das rechtlich gesehen nicht zu Mördern – sie haben ja nicht die Absicht, andere Menschen zu töten. Auch das Management des Unternehmens plant ja nicht, dass seine Politik zu Todesfällen führt. Doch selbst in diesem Fall, in dem Investoren und Management zusammenarbeiten und es zu solchen Ergebnissen kommt, verletzen die Akteure das Recht einiger Personen, nicht getötet zu werden. Dabei können sie diese Tötungen nicht als Selbstverteidigung oder unvermeidlich rechtfertigen.

      Den zweiten Fall, bei dem selbst bei ausreichenden Lebensbedingungen die ökonomischen Aktivitäten bestimmter Leute zum Tod anderer Menschen führen, könnte man als Rohstoffpreis-Fall bezeichnen. Wenig entwickelte Länder sind häufig massiv abhängig vom Preisniveau einiger weniger Rohstoffe. Wenn also der Weltmarktpreis für Kaffee oder Zucker oder Kakao fällt, kann das für ganze Regionen den Ruin bedeuten, was natürlich auch zu vermehrten Todesfällen führt. Und das Abstürzen der Preise ist ja keineswegs in allen Fällen nicht von Menschen verursacht. Wo der Preisverfall auf das Handeln von Investoren, Rohstoff-Brokern und Regierungsbehörden zurückgeht, entscheiden sich diese Leute bzw. Institutionen für eine Politik, die einige Menschen töten wird. Auch hier kann man die Verantwortung nicht einem einzelnen Menschen zuschreiben. Sie ist nicht unmittelbar, denn der für die Tode Verantwortliche kann auch nicht vorhersehen, wer sterben wird. Vermutlich hat er nicht einmal die Absicht zu töten.

      Da die meisten Länder heute wirtschaftlich hochgradig voneinander abhängig sind, können Todesfälle selbst durch den Anstieg von Preisen verursacht sein. So gehen Agrarwissenschaftler davon aus, dass die Hungersnöte in der afrikanischen Sahelzone und auf dem indischen Subkontinent Mitte der 1970er-Jahre auf klimatische Veränderungen und den Preisanstieg für Öl zurückzuführen sind, der wiederum Düngemittel, Weizen und andere Getreidesorten verteuerte.

      Auch der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel führt regelmäßig zu höheren Todesraten bei den Menschen, die weltweit die unterste Einkommensgruppe bilden. Sie verfügen nicht über genug Einkommen, um ihre Lebenshaltungskosten entsprechend anzupassen. Sie leben ja ohnehin schon nahe dem Existenzminimum.15

      Natürlich werden nicht alle Menschen, die sterben, getötet. Menschen, die aufgrund der Dürre sterben, hat man sterben lassen. Und einige der Menschen, die sterben, weil ihr Acker zu wenig abwirft, da sie zu wenig Düngemittel hatten, sterben ebenfalls aus Gründen, die weit jenseits des Einflussbereiches von Menschen liegen. Aber wo der Anstieg der Ölpreise auf arabische Diplomatie zurückgeht bzw. auf Managemententscheidungen der Ölfirmen und nicht nur ein unerwarteter Gewinn ist, dort handelt es sich bei den Todesfällen um Tötungsdelikte. Einige dieser Todesfälle mögen sich vielleicht sogar rechtfertigen lassen (wenn sie zum Beispiel mehr als aufgewogen werden durch die Anzahl geretteter Leben in der industrialisierten arabischen Welt), Tötungsdelikte sind es trotzdem.

      Selbst wo die Erde genügend Mittel zum Überleben hervorbringt, können Menschen getötet werden, weil andere Menschen Verteilungsentscheidungen treffen. Die Kausalketten, die zu dieser ungleichmäßigen Verteilung und damit zu den Todesfällen führen, sind mitunter unglaublich komplex. Wo sie mit einiger Klarheit auszumachen sind, sollten wir, wenn wir das Recht, nicht getötet zu werden, ernst nehmen und nicht nur versuchen, andere nicht zu töten, sondern auch Dritte an solchen Handlungen zu hindern, für politische Strategien eintreten, die diese Todesfälle verhindern. Zum Beispiel – und das sind nur einige Beispiele – könnten wir für bestimmte Hilfsprogramme eintreten, für andere nicht; wir könnten uns gegen bestimmte Auslandsinvestitionen zur Wehr setzen; wir sollten gegen Spekulation mit Grundnahrungsmitteln vorgehen und preisstützende Maßnahmen für bestimmte Rohstoffe festlegen (von denen von Armut betroffene Länder besonders abhängig sind).

      Sind wir jedoch der Ansicht, dass wir nicht verpflichtet sind, die Rechte anderer durchzusetzen, dann lässt sich daraus keine allgemeine Schlussfolgerung ableiten, die uns verpflichten würde, eine bestimmte Wirtschaftspolitik zu unterstützen, die ungerechtfertigtes Töten verhindert. Vielleicht aber müssen wir trotzdem davon ausgehen, dass wir aktiv werden sollten, entweder, weil unser eigenes Leben von den wirtschaftlichen Aktivitäten anderer bedroht ist oder weil unser ökonomisches Handeln das Leben anderer gefährdet. Nur wenn wir sicher wüssten, dass wir nicht teilhaben an Handlungen, die ungerechtfertigte Tode nach sich ziehen, dürfen wir annehmen, dass wir nicht verpflichtet sind, Maßnahmen zu unterstützen, die diese Todesfälle verhindern könnten. Die kausalen Verflechtungen in der modernen Wirtschaft sind so vielschichtig, dass nur Menschen, die wirtschaftlich völlig isoliert sind und autark leben, wissen können, dass sie nicht Teil eines solchen Systems sind. Menschen, die glauben, dass sie in solche todbringenden Aktivitäten verstrickt sind, haben einige derselben Pflichten, wie sie jenen eigen sind, die glauben, es sei ihre Pflicht, das Recht anderer auf Nicht-Getötetwerden durchzusetzen.

       Situationen der Knappheit

      Der letzte Abschnitt zeigte, dass, selbst wenn ausreichend Mittel vorhanden sind, Menschen manchmal dadurch getötet werden, dass andere die Mittel zum Überleben ungleichmäßig verteilen. Auf lange Sicht aber sind jene Situationen wichtiger, die sich wirklich mit dem Rettungsboot-Szenario vergleichen lassen: Situationen, in denen die Ressourcen knapp werden. Wir stehen vor Umständen, in denen nicht jeder Mensch, der geboren wird, auch mit einer normalen Lebenserwartung rechnen kann. Und wir können davon ausgehen, dass sich diese Spanne verkürzen wird. Wann solch eine ernsthafte Verknappung eintreten könnte, ist Gegenstand von Debatten, aber selbst die optimistischen Propheten sehen sie nur wenige Jahrzehnte entfernt.16 Wie schnell diese Situation eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel der technologischen Innovation, dem menschlichen Erfindergeist, vor allem im Bereich Landwirtschaft und Bevölkerungskontrolle, und dem Erfolg von Programmen zur Geburtenkontrolle.

      Solche Vorhersagen scheinen uns von der Mittäterschaft