Onora O'Neill

Gerechtigkeit über Grenzen


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wenn die sozialen und ökonomischen Strukturen zu instabil sind, um solche natürlichen Schockwellen aufzufangen. Jeder, der in Kalifornien lebt, weiß, dass ein Wüstenklima nicht unbedingt zu einer Hungersnot führen muss. Menschen in Minnesota wissen, dass ein harter Winter nicht unzählige Kältetote zu bedeuten braucht. Doch beide Regionen würden eine katastrophale Mortalität aufweisen, wären die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen vor Ort nicht stabil. Viele Naturkatastrophen führen nur dann zu humanitären Katastrophen, wenn soziale Strukturen fehlen.

       Was ist zu tun?

      Die Fakten zu Hunger, Armut und Hungersnöten in der Welt würden eine endlose Liste ergeben. Doch zeigen uns diese Fakten nicht, was zu tun ist. Wir müssen aber aktiv werden. Welche Maßnahmen wir für gut halten, hängt zum Teil von unserer Wahrnehmung der Fakten ab, die wiederum davon abhängt, welche ethische Einstellung wir vertreten. Sowohl unsere Wahrnehmung der Probleme als auch unsere Entscheidung zum Handeln spiegeln unsere ethische Theorie wider. Ethische Theorien sind kein dekoratives Beiwerk zu unserer Reflexion über praktische Probleme. Sie bestimmen vielmehr unsere ganze Sichtweise. Sie lassen uns bestimmte Fakten und Prinzipien als wichtig wahrnehmen und andere als unwesentlich. Sie fokussieren unser Handeln – oder unser Nichtstun.

      Ich werde mich hier mit drei verschiedenen Theorien auseinandersetzen, was gegen Hunger und Hungersnöte unternommen werden sollte. Zwei davon sind sehr bekannt und werden in der englischsprachigen Welt ausführlich erörtert. Die dritte ist in vielerlei Hinsicht älter und vertrauter, erhält aber deutlich weniger öffentliche und philosophische Aufmerksamkeit. Ich werde die ersten beiden Theorien kritisch betrachten, die dritte hingegen empfehlen.

      Der erste Ansatz sieht im menschlichen Glück und Wohlbefinden die Richtschnur für die Einschätzung von Handlungsmöglichkeiten. Seine bekannteste moderne Version ist der Utilitarismus. Für Utilitarier geht es bei ethischen Forderungen immer darum, was anderen nützt. Der zweite Ansatz betrachtet die Einhaltung der Menschenrechte als grundlegend und beschreibt die entscheidenden Aspekte des Hungers in der Welt als Frage der Gerechtigkeit, die sichergestellt wird, indem man Rechte respektiert. Der dritte Ansatz legt die Erfüllung von menschlichen Verpflichtungen oder Pflichten zugrunde und geht davon aus, dass wir gegenüber anderen, vor allem hilfsbedürftigen anderen, sowohl Pflichten der Gerechtigkeit als auch solche des Helfens und Nützens haben, die wir erfüllen müssen. Da keine Maßnahme gegen den Hunger bzw. Entwicklungshilfestrategie sich allein auf individuelles Handeln gründen kann, zeigen alle drei Positionen Wege auf, wie sich sowohl öffentliche und institutionelle Politik wie individuelles Handeln anbahnen lassen.

       Wie man Glück misst und steigert

      Die zentrale Idee aller ethischen Überlegungen, die auf Konsequenzen und Resultate abstellen, ist, dass Handeln dann richtig ist, wenn es gute Resultate hervorbringt. Die speziell utilitaristische Version dieses Ansatzes misst die „Güte“ der Resultate daran, inwieweit sie einen Beitrag für das menschliche Glück im Allgemeinen leisten: Die besten Resultate sind jene, die das menschliche Glück vermehren. Diese Position ist vielen bekannt, denn in eingeschränkter Form hat sie Eingang in die ökonomische Theorie und Unternehmenspraxis gefunden und wird häufig für Alltagsentscheidungen herangezogen. Die Frage ist nur: Was steigert das menschliche Glück?

      Die Frage scheint einfach, und trotzdem hat es darauf eine Menge unklarer Antworten gegeben. Selbst Diskussionen über Hunger und Hungersnöte, bei denen die Mittel zur Steigerung des Glücks auf der Hand zu liegen scheinen, rufen Meinungsverschiedenheiten unter utilitaristischen Autoren hervor. Der australische Philosoph Peter Singer23 greift auf einfache ökonomische Überlegungen zurück und argumentiert, dass jeder ernsthafte Utilitarist einer radikalen Umverteilung seiner Güter und Einkommen an die Armen zustimmen müsste. Die klassischen Theorien der Ausgrenzung legen nahe, dass wir Glück steigern können, indem wir Ressourcen von den Reichen zu den Armen umverteilen. Die Unzufriedenheit, die entsteht, wenn man ein Luxusgut – zum Beispiel ein Auto – abgeben muss, würde mehr als aufgewogen durch das Glück, das sich einstellt, wenn man stattdessen Nahrungsmittel für die Hungernden kauft. Singer erfuhr sofort Widerspruch von Garrett Hardin24, der auf Thomas Malthus, einen Ökonomen und Bevölkerungstheoretiker des 19. Jahrhunderts, aufsetzt. Malthus argumentierte, dass es nur das Bevölkerungswachstum steigere, wenn man die Armen mit Nahrungsmitteln versorgen würde. Auf Dauer gäbe es dadurch mehr Menschen, als ernährt werden könnten. Dies wiederum hätte noch schlimmere Hungersnöte und absolutes Elend zur Folge.

      Es ist eine wichtige praktische Frage, ob die Utilitarier diese Meinungsverschiedenheiten beilegen können. Der Begründer des Utilitarismus Jeremy Bentham, ein radikaler Philosoph und Polemiker, befand, dass wir das mit einiger wissenschaftlicher Genauigkeit tun könnten: Es gehe einfach nur darum, sieben Dimensionen des menschlichen Glücks zu vermessen. Dabei sollte uns ein prägnanter Merkvers helfen, den er in seiner Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung vorstellte:

      Intensiv, lang, gewiss, schnell, ergiebig, rein

      Kann Leid und Freude sein.

      So sei Freude, wenn privat für dich.

      Noch weiter gesteckt dann, wenn öffentlich.

      Solch Leid meide, egal was die Ziele;

      Wenn Leid sein muss, dann sei’s nicht für viele.25

      Doch wir wissen, dass dieser metrische Ansatz eher unzulänglich als wissenschaftlich ist. Trotz der ständig wiederkehrenden optimistischen Annahmen einiger Ökonomen und Entscheidungstheoretiker hinsichtlich der Möglichkeiten, das Glück zu vermessen, wissen wir, dass wir Glück nie exakt vorhersagen oder messen oder akkumulieren können.

       Genauigkeit, Exaktheit und Bedürfnisse

      Und doch lassen sich anscheinend ungefähre Einschätzungen menschlichen Glücks vornehmen. Vielleicht ist das ja auch ausreichend. Schließlich brauchen wir ja keine hundertprozentige Präzision, sondern nur eine vertretbare (wenn auch vage) Genauigkeit. Wir wissen, dass Hunger und Armut zu Elend führen und dass dieses Elend beendet wird, wenn es genug zu essen gibt. Müssen wir denn wirklich mehr wissen?

      Wenn wir Utilitarier sind, müssen wir sehr viel mehr in Erfahrung bringen. Wir müssen nicht nur wissen, welche allgemeinen Resultate wir anstreben sollten, sondern auch, welche Mittel dazu geeignet sind. Da schon winzige Änderungen im Verhalten und in der Politik die Ergebnisse massiv beeinflussen können, müssen wir einen exakten Vergleich vieler Resultate vornehmen. Dies zeigen schon die vielen Beispiele, wie wohltätige Aktivitäten zu nicht erwarteten Ergebnissen geführt haben. Viele Entwicklungshilfemaßnahmen zur Nahrungsversorgung haben denjenigen, denen sie helfen sollten, tatsächlich geschadet und Menschen, die nicht zu den Ärmsten der Armen zählen, genützt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass wir auf Nahrungsmittellieferungen verzichten sollten – vor allem nicht in Zeiten von Hungersnöten –, doch sie reichen nicht aus, um das Elend zu beenden, und können, so sie fehlgeleitet werden, auch schaden.) Einige Entwicklungshilfemaßnahmen, die den Lebensstandard durch Anbau von Getreidesorten, die auf den Märkten hohe Preise erzielen, heben sollten, haben die Lebensgrundlage von Subsistenzbauern zerstört und die ärmsten Schichten noch ärmer gemacht. Von Entwicklungshilfe profitieren häufig jene, die Hilfe nicht so dringend benötigen würden, manchmal auch schlicht die Korruptesten im Land. Die Allgegenwart der Korruption zeigt auch, wie wichtig es für Utilitarier ist, exakte Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich das menschliche Glück steigern lässt. Gute Absichten sind wohlfeil, aber eine Strategie der Wohltätigkeit lässt sich nicht festlegen, wenn wir die Resultate nicht exakt vorhersagen und vergleichen können.

      Um ihre Berechnungen anzustellen, brauchen die Utilitarier nicht nur exakte Messmethoden für Glück, sondern auch exakte Vorhersagen der Resultate, die die einzelnen Maßnahmen bewirken. Sie brauchen jene Art umfassender und vorhersagestarker Sozialwissenschaften, die viele Forscher anstreben, ohne sie aber bis dato erreicht zu haben. Im Moment lassen sich nicht einmal die grundlegendsten