Der Junge verbringt die Ferien bei Tante Louane in »La Forêt-Fouesnant«, in Küstennähe. Sein Großvater wartet ebenfalls sehnsüchtig auf den einzigen Enkel.
Der Gestank, den der Nachbar verströmt, ist unerträglich. In der Sitzreihe davor unterhalten sich zwei ältere Damen in unangemessener Lautstärke. Die betagten Vorstadt-Pariserinnen kommentieren Belanglosigkeiten in der Landschaft, als seien die vorbeirasenden Landmarken die wichtigsten Errungenschaften der Menschheit. Die Klimaanlage in dem Großraumwaggon ist für T-Shirt und kurze Hosen zu frostig eingestellt. Marcel friert. Bei der Menschenmenge besteht keine Hoffnung, aus dem Koffer ein wärmeres Kleidungsstück herauszuholen, geschweige denn, dem merkwürdigen Nachbarn zu entfliehen. Das Wetter verschlechtert sich zunehmend. Die flache »Perche« zieht vorüber und die Gedanken reisen durch die Vergangenheit.
Der Tod seines Onkels, Janick Noyieux, dem Ehemann der Tante, hat ihn damals tief getroffen. Seine witzige Art hat ihn als Kind oft zum Lachen gebracht und dessen Schiffsmodelle haben sich in seine Erinnerungen gebrannt, mit denen der Junge ungestraft gespielt hat, selbst wenn Teile abgebrochen sind. Der ehemalige Matrose eines Unterseebootes und späterer Kapitän eines gekenterten Touristen-Rundfahrtschiffes ist bei dem Versuch ertrunken, Passagiere zu retten.
Beruflich ohne Ehrgeiz lebt die Tante von diesem Zeitpunkt an von einer bescheidenen Witwenrente mietfrei im Haus des Großvaters. Die passionierte Anhängerin bretonischer Mythen und Sagen schreibt regional bekannte Bücher über ihre Entdeckungen. Das hat ihr keine Freunde beschert. Das frühere Stadtoberhaupt hat postuliert, ihre wissenschaftlich nicht fundierten Schauergeschichten vertrieben die Gäste. Die Hetze hat schädigende Ausmaße angenommen, denn das Oberhaupt des Ortes forderte den Zeitschriftenhändler auf, ihr erstes Buch nicht in sein Sortiment aufzunehmen. Bevor der Streit vor Gericht gelandet ist, starb der Bürgermeister aus ungeklärten Umständen. Seither hat Tante Louane in der Gemeinde den Ruf einer Hexe. Sein Opa Paul ist sechsundneunzig Jahre alt und hofft, nicht vor Marcels eintreffen das Zeitliche zu segnen.
„Zigarette?“, meldet sich der übergewichtige Sitznachbar wieder zu Wort.
„Ich rauche nicht! Aber egal, vielleicht beruhigt das Nikotin meine Nerven.“
„Dich aufzufinden hat mich meine letzten Nerven gekostet!“
Der Kahlköpfige zündet die beiden Glimmstängel an und öffnet eine weitere Bierdose. Ihm fallen die winzigen Ohren seines Nachbarn erneut ins Auge.
„Meine Vorgesetzte und ich haben durch dich beträchtlichen Ärger erhalten, und ich bin den Job als Sicherheitsoffizier des Präsidenten los.“
„Ohne Ihre Dienstmarke haben Sie nicht das Recht, mich zu verfolgen! Genießen Sie Ihre Freizeit!“
„Mein Chef bleibt der Gleiche, obwohl ich nicht mehr in der alten Abteilung bin. Sei froh, in diesem überfüllten Zug zu sitzen! Wenn all die Leute nicht im Gang stünden, hätte ich dich längst grün und blau geschlagen!“
„Ich habe Ihnen nichts getan! Ich kenne Sie nicht einmal. Das ist garantiert eine Verwechslung! Wenn Sie mir wehtun, schreie ich um Hilfe!“
„Ich übergebe dich meiner neuen Dienststelle! Danach ist meine Ehre wiederhergestellt und der große Meister ist mir wieder wohlgesonnen. Der Herr der Hölle wartet mit Vergnügen auf dich. Niemand sieht den Höchsten ungestraft!“
Um den Worten Nachdruck zu verleihen, quetscht ihn der Häscher zwischen sich und der Außenwand ein.
„Auf den Fang!“, bringt der Söldner einen Toast auf sich aus.
„Was haben Sie mit mir vor?“
„Ich bringe dich nach Paris zurück.“
Das widerliche Wesen neben ihm genehmigt sich auf den Sieg ein Bier nach dem anderen. Marcel hat Bauchschmerzen, Bedenken vor möglichen Konsequenzen und Platzangst. Die Gedanken rotieren. Der Junge steht kurz vor einer Ohnmacht. Alle seine Sinne haben Alarmstufe rot.
„Frankreich trennt sich besser von der Bretagne!“, fordert eine der beiden Damen auf den Sitzen vor ihm. „Die Menschen dort sind keine Franzosen!“
„Wir alle sind gläubige Christen!“, entrüstet sich ihre Nachbarin.
„Ich muss auf die Toilette!“, stellt Marcel seinen Mut auf die Probe.
„Komm schon!“, murrt der Trunkenbold und die nächste Dose verliert ihren Verschluss. „Dieser Trick ist älter als das Kino und du hast dich schon einmal aus dem Staub gemacht. Mein Chef hat geeignete Mittel, um aus dir herauszuquetschen, was du mitbekommen hast.“
„Und weiter?“
„Das entscheidet der Meister, was mit dir geschieht!“
„Wieso geschehen? Ich bin kein Verbrecher! Was habe ich deiner Meinung nach gesehen? Und wo? Ich kenne Sie nicht!“
„Christen?“, schreit die Dame am Fenster. „Nachfahren von Templern, die Frankreich mithilfe des »Baphomet« ruinieren!“
„Diese Schachteln haben keine Ahnung!“, empört sich der Angetrunkene. „Hebräisch rückwärts gelesen wird aus »Baphomet« den Namen unserer großen Göttin SOPHI.A!“
„Ich muss aufs Klo!“
„Und wenn du dir die Hose vollmachst – du bleibst sitzen!“
„Sprich leiser!“, sagt die Mitreisende vor ihm zu ihrer Sitznachbarin.
„Uns hört der ganze Wagen zu!“
Monoton rattern die Räder über die Gleise. Der Inhalt einer weiteren Dose Bier rinnt durch eine Kehle, die keinen Durst mehr hat. Der Junge schaut angestrengt aus dem Fenster. Wann kommt der Zug im nächsten Bahnhof an? Hoffentlich ergibt sich auf dem Bahnsteig eine günstige Gelegenheit, um dem Fettwanst davonzulaufen. Dessen Chef beabsichtigt Marcel erst gar nicht kennenzulernen! Die Polizei ist dank der Graffiti keine Alternative und steckt am Ende mit dieser Organisation unter einer Decke. Heftiges Schnarchen dring an sein Ohr. Das Bier hat seine Wirkung als Schlafmittel voll entfaltet.
Der Junge stemmt sich mit voller Kraft gegen die Seitenwand. Der Kerl ist zu schwer! Unverhofft gibt die fleischige Masse nach. Ein athletisch gebauter Mitreisender grinst ihn an.
„Ich habe euer Gespräch unfreiwillig mitgehört. Ich habe keine Ahnung, was du seiner Auffassung nach ausgefressen hast, und die Hintergründe gehen mich nichts an. Ich schätze, du bist im Recht und der Penner ist ein Verbrecher. Los! Steige über ihn und verstecke dich bis zum nächsten Halt in der Menschenmenge! Der Säufer steht vermutlich so schnell nicht wieder auf.“
„Vielen Dank! Warum haben Sie mir geholfen? Sie kennen mich nicht einmal!“
„Ich habe genug Menschenkenntnis und ein Gespür für Ungerechtigkeit!“
„Wie revanchiere ich mich bei Ihnen?“
„Hilf anderen Menschen. Das Gute kommt eines Tages zu mir zurück!“
Der Junge hat keine Zeit, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Sein Koffer ist in einem Gepäckregal aufbewahrt.
Unter einem Schwall an ruppigen Worten und derben Gesten hangelt sich der Befreite seinen Sachen entgegen und quält sich mit dem Reisegepäck in Richtung Lokomotive. Der nächste Waggon hat Abteile und auf dem Gang stehen nur vereinzelt Passagiere. Einen Wagen weiter stellt Marcel sich an den Ausstieg und schaut sich nervös um. Der Zug reduziert seine Geschwindigkeit. Die Strecke ist kurvenreich und folgt einer idyllischen Flusslandschaft. Die Bebauung ist urbaner. Die Gleise durchqueren den nicht endenden Rangierbahnhof von »Rennes«. Bange Minuten bleiben bis zum Erreichen des Hauptbahnhofs. Die Fahrgäste drängen sich zu den Ausgängen.
„Lassen Sie mich durch!“, lallt der Häscher von Weitem. „Im Namen des Staates! Geben Sie den Weg frei!“
Die Bremsen quietschen Unheil verheißend.
„Warten Sie gefälligst“, erwidert