Dabei ging es im Grunde nicht darum, was er mir da eigentlich gesagt hatte, das hatte ich eh nicht verstanden. Er hatte mich einfach nicht mitspielen lassen, wollte mich mit dieser hässlichen Negerpuppe abspeisen und hatte mich angeschrien. Er hatte mich angeschrien und mir Angst gemacht.
Obwohl mir der tiefere Sinn dieser Aktion auf dem Dachboden so überhaupt nicht einleuchtete, beschäftigte er mich zunehmend. Ich musste immer daran denken. Ob ich wollte oder nicht: Während ich spielte, kehrten seine Worte zurück und setzten sich in mir fest, so sehr ich auch versuchte, sie als dummes Geschwätz abzutun und darüber abfällig zu lachen: »Du bist nicht mein Bruder! Und das Kind von Mama und Papa, das bist du auch nicht!«
Hmm. Ich wusste ja bereits, dass ich ganz anders aussah als meine Eltern und meine Brüder. Das hatte ich auf Fotos entdeckt und auch im Spiegel. Aber ich hatte das immer als eine Besonderheit angesehen, eine Auszeichnung, und so war es mir von allen anderen auch verkauft worden: »Na, du bist aber ein Süßer, mit deinen schwarzen Locken und dunklen Augen! Ein ganz ein Schöner!« So oder so ähnlich klang es, wenn Verwandte oder sonstige Erwachsene auf mich zutraten, mich begutachteten, begrapschten, hochhoben und bestaunten. Das kannte ich nicht anders. Ich galt als besonders braun, besonders exotisch, besonders hübsch. Nicht im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass das damit zu tun haben könnte, kein korrektes Mitglied dieser Familie zu sein.
Meine Eltern waren beide brünett, genauso wie mein Bruder Axel, nur Steffen war blond. Äußerlich hatten sie miteinander auch nicht so viel gemeinsam, außer vielleicht, dass sie alle vier eine Brille trugen. Ich dagegen nicht. Aber waren sie deshalb nicht meine Eltern und Brüder?
Als mich meine Mutter am selben Abend ins Bett brachte, und mir mit zarter Stimme »Weißt du wie viel Sternlein stehen« als Gute-Nacht-Lied vorgesungen hatte, wagte ich es einfach mal, sie zu fragen.
»Steffen war heute böse zu mir. Er hat gesagt, dass du nicht meine Mama bist und er nicht mein Bruder. Stimmt das?«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vermutlich, dass sie darüber lachte und »Blödsinn« und »Vertragt euch« sagte, wie sie es ja meistens tat, wenn irgendeiner von uns irgendeinen beleidigt, gehauen oder sonst irgendetwas Dummes getan hatte. Aber ich hatte nicht geahnt, was dieser kleine Satz bei ihr auslösen würde.
Eben noch hatte ihr wundervoller Sopran mich sanft an die Pforte der Traumwelt geführt, wo ich nicht mal mehr anklopfen, sondern nur noch eintreten musste, so wie er das jeden Abend tat, und normalerweise Erfolg damit hatte. Nur nicht heute, wo mich etwas Anderes beschäftigte.
Eben noch hatte sie gelächelt, hatte mir liebevoll die Decke bis ans Kinn gelegt, damit ich in der Nacht nicht fror.
Doch nun bekam ihr Gesicht von einem Moment auf den anderen einen eigenartig verzerrten Ausdruck, so als hätte sie was Schlechtes zum Abendbrot gegessen und wäre kurz vorm Übergeben. Sie musste sich von mir wegdrehen, starrte auf den Teppich und faltete ihre Hände. Sie atmete schwerfällig und langsam und stöhnte beim Ausatmen.
Nach einer Weile hatte sie sich gefasst, wandte sich wieder meinem Gesicht zu, blickte mir tief in die Augen und sagte mit fester Stimme: »Nein, Mathias. Steffen hat Unrecht.«
Dann warf sie mir noch ein Lächeln zu, das allerdings einen Tick zu angestrengt wirkte, als dass ich es ihr hätte glauben können, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dem Zimmer.
Mein Herz wummerte. Ich konnte nicht einschlafen.
Das, was mir mein Bruder heute gesagt hatte, und die komische Reaktion meiner Mama arbeiteten immer noch in mir weiter, vermischten sich mit seltsamen Fantasien, in denen Geister und Monster vorkamen, die aussahen wie eine Kreuzung aus Ken und Barbie und der Negerpuppe, die mich aus dem Bett reißen und aus dem Haus ziehen wollten.
Als Soundtrack dazu erklang »Weißt du wie viel Sternlein stehen« mit dem glockenhellen Sopran meiner Mama in Endlosschleife, der sich immer schriller, verzerrter in meinem Kopf ausbreitete und mich so gar nicht mehr beruhigte.
Das lag vielleicht auch an dem sehr realen, lautstarken Streit, der eine Etage tiefer in unserem Wohnzimmer stattfand.
Ich vernahm die aufbrausende Stimme meines Vaters, die besorgten, beschwichtigenden Töne meiner Mutter und das Heulen und Kreischen von meinem Bruder Steffen.
Seine Worte hörte ich am deutlichsten: »Ihr Lügner! Ihr seid solche Lügner!«
Plötzlich ließ mich das Knallen einer Tür zusammenfahren und das Brüllen meines wutentbrannten Papas, der sie umgehend wieder aufriss: »Na warte! Du sollst mich kennenlernen!«
An der Treppe zum Obergeschoss, in welchem ich mittlerweile zitternd, schwitzend und mit panisch aufgerissenen Augen in meinem Bettchen lag, prügelte er endlose Minuten lang auf meinen wimmernden Bruder ein.
Streuselkuchen mit Nachschlag
Als mich meine Mama am nächsten Tag zu Fuß vom Kindergarten abholte, trat sie mit mir völlig überraschend in die kleine Konditorei, die sich auf halbem Wege nach Hause befand und aus der es morgens immer so gut roch. Sie bestellte sich einen Tee und mir einen Streuselkuchen, den ich so sehr liebte, am liebsten aber von ihr selbst gebacken.
Ich war noch nie im Innern dieser Bäckerei gewesen, immer nur dran vorbeigelaufen, Essen gab es bei uns zu Hause und sonst nirgends.
Doch mir sollte der Abstecher recht sein. Ich hatte nach dem Kindergarten und dem ganzen Gespiele mit meinen Freunden sowieso meist einen Kohldampf, der mit Mittag- und Abendessen allein schwerlich gestillt werden konnte.
Ich kaute zufrieden meine Streusel, die ich vom Teigboden löste, und separat verspeiste, weil sie so schön süß waren und wunderbar zart im Vergleich zum trockenen Boden, den man endlos lang kauen musste. Und ich merkte, wie meine Mama mich lächelnd beim Futtern beobachtete.
Doch plötzlich fror ihr Lächeln ein. Sie räusperte sich und hob zu sprechen an. »Weißt du, Mathias, wir haben euch alle drei sehr, sehr lieb, und wir wollen niemals andere Kinder haben als euch drei«, sagte sie und blickte mir tief in die Augen, wie sie es gestern Abend ja auch schon getan hatte.
Ich kaute vor mich hin, blickte sie ebenfalls an, allerdings verdutzt. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, da sie plötzlich wieder so unheimlich ernst wurde.
Sie fuhr fort: »Was Steffen da gestern zu dir gesagt hat, … das stimmt … zum Teil … ein wenig …«
Ich hörte auf zu kauen. Eigentlich hatte ich diese Sache mit den Puppen längst zur Seite geschoben, am Tage hat man schließlich andere Sorgen als in der Nacht. Aber nun interessierte mich natürlich schon, wieso Steffen mit seiner dämlichen Aktion auf dem Dachboden denn auf einmal doch Recht gehabt haben sollte. Und wenn es auch nur »zum Teil« war.
»Nun ja«, fuhr sie fort. »Jedes Kind hat Papa und Mama, genau wie du, wir sind Mama und Papa für dich, und das werden wir auch immer bleiben. Aber weißt du, Mathias, da gibt es andere Menschen, die dafür gesorgt haben, dass du zur Welt kamst. Und da gab es wieder andere Menschen, die haben Axel zur Welt gebracht. Und noch einmal ganz andere, die sind dafür verantwortlich, dass es den Steffen gibt.«
Ich starrte sie aufmerksam an und wagte nicht zu atmen. Obwohl ich nicht viel von dem, was sie da sagte, begriff, wusste ich intuitiv, dass es jetzt nicht angebracht war, irgendetwas anderes zu machen, als ihr zuzuhören.
»Diese anderen Menschen«, fuhr sie fort, und ich merkte, wie schwer sie sich damit tat; sie sprach die Worte langsam, gedehnt und machte lange Pausen, »die haben dann irgendwann gemerkt, dass sie nicht gut für euch sind. Und haben euch lieber zu uns gegeben, zu Mama und Papa Kopetzki, wo ihr – wahrscheinlich – ein besseres Zuhause bekommt als bei ihnen. Verstehst du?«
Ich schüttelte den Kopf. Sie nickte.
»Irgendwann wirst du alles mal verstehen. Aber jetzt noch nicht. Und bis dahin ist das, was Steffen dir da gestern gesagt hat, eine große Dummheit gewesen. Denn wir sind genauso Eltern für dich wie für Steffen. Und das unterscheidet sich kein bisschen davon, wie andere Eltern zu ihren