Mathias Kopetzki

Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele


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und Honig fließen, hatten wir kürzlich erst bei Frau Koslowski in Reli gehabt. Doch das erwähnte ich nicht, vielleicht war mir auch selber nicht so ganz bewusst, wo ich diesen ganzen Schwachsinn eigentlich aufgeschnappt hatte.

      Ich war dermaßen in meinem Element, dass ich einfach weiter fabulierte: »Du hast vollkommen recht, Markus, du hast diese Geschichte schon mal gehört. Und das nicht nur einmal. Und zwar deswegen, weil das nämlich Ortsgespräch ist in Hude, bis heute! Und ich schwöre dir, es gibt sogar Fotos von der Magd! Jedenfalls hatte die keinen Mann und kein Haus. Und da hat sie sich gedacht, da ist doch die Familie Kopetzki, die nehmen immer Kinder auf, und warum nicht dieses, da freuen die sich doch!«

      »Mann, Mann, Mann!« Markus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht.«

      Ich spürte, wie es in ihm ratterte. Gleich ist es soweit, jubilierte ich innerlich, setzte aber außen mein Pokerface auf. Gleich hab ich ihn vollständig überzeugt!

      »Und deswegen«, wagte sich noch einmal jene Frage aus ihm heraus, die mich überhaupt zu dieser ganzen Erzählung veranlasst hatte. »Deswegen siehst du also so … so anders aus als deine Eltern und Brüder?«

      »Meine Zweiteltern und meine Zweitbrüder!«, posaunte ich stolz. »Woanders hab ich natürlich noch ganz viele andere! Brüder, kann ich dir sagen, und Schwestern, so viele, davon kannst du nur träumen! In Italien! Und im Land, wo Milch und Honig fließen! Da leben die alle! Ganz weit weg! Und gaaanz glücklich!«

      »Und willst du da mal hin?«, fragte er schüchtern.

      Ich überlegte eine Weile, genoss dabei im Stillen meinen Triumph und die Tatsache, es meinem Fußball-Erzkonkurrenten in zumindest anderer Disziplin mal so richtig gezeigt zu haben.

      »Nö«, fiel es entspannt aus meinem Mund.

      Ich riss ihm den Ball aus der Hand, kickte ihn auf die Wiese und jagte hinter ihm her.

      »Ist doch alles super hier!«, rief ich. » Komm, lass uns weiterspielen!«

      Das war die Story, die ich Markus erzählte. Nicole erzählte ich eine ganz andere.

      Sie war das einzige gleichaltrige Kind in meiner Straße und kam fast jeden Nachmittag zum Spielen auf unser Grundstück mit dem schönen, großen Rasen, wo es eine Wippe gab und eine Schaukel und einen Sandkasten. Sie selber hatte nur einen Sandkasten.

      Als ich mit ihr auf die zweistufige »Turnstange« kletterte, die wir so nannten, obwohl es eigentlich eine stählerne Wäscheleine war, und wir auf der unteren Stange zum Sitzen kamen, betrachtete sie meine schwarzen Locken, meine dunklen Pupillen und sagte plötzlich: »Mein Papa meint, du bist nicht deutsch.«

      Dann schaute sie mir erwartungsvoll in die Augen, so als müsste ich jetzt sofort, auf der Stelle eine Erklärung dazu abgeben. Als hätte ich etwas ganz Schlimmes verbrochen, sie hätte mich dabei ertappt, und nun müsste ich mich dafür entschuldigen. Oder beteuern, dass das alles ja gar nicht wahr sei und ich es überhaupt nicht getan hätte!

      Natürlich hätte ich jetzt sagen können: »Das stimmt nicht, was dein Papa sagt«, aber dann wäre sie vermutlich beleidigt von dannen gezogen, wie sie es schon mal gemacht hatte, als ich ihr gesagt hatte, dass ihr Papa immer so eine rote Nase habe und furchtbar aus dem Mund rieche.

      Und dann hätte ich für die nächsten Tage mal wieder keine Spielfreundin gehabt, die mich nachmittags besuchte, vielleicht sogar keine für die nächsten Wochen. Denn die meisten meiner anderen Freunde waren faule Säcke, die keine Lust darauf hatten, zwei Kilometer zu mir hinaus zu radeln – bei denen im Ortskern gab es ja Spielplätze genug. Wäre also ziemlich fahrlässig gewesen, es sich mit ihr zu verscherzen.

      Ich löste mich von ihrem neugierigen Blick, indem ich mich mehr oder weniger gekonnt an der Stange entlanghangelte.

      Sie tat es mir nach, war darin aber um einiges wendiger, eine kleine Schlangenfrau – das hatte sie vermutlich beim Voltigieren auf Ponys gelernt. Sie konnte sogar auf der unteren der beiden Stangen ein paar Schritte freihändig balancieren. Doch obwohl sie so konzentriert ihre Turnkünste vollführte, wusste ich, dass sie immer noch auf eine Antwort wartete.

      Einen Ballwurf weiter weg, hinten im Blumenbeet, machte sich meine Mama am Unkraut zu schaffen, während Papa am Hühnerstall herumwerkelte. Der Verschlag musste ausgebessert werden, und er zimmerte gerade ein Holzstück an die Schuppenwand. Die Schläge seines Hammers hallten zu uns herüber und so ähnlich hämmerte es auch in meinem Schädel, da ich krampfhaft überlegte, was ich Nicole denn nun erzählen sollte.

      Meine Eltern konnten uns zum Glück nicht hören, nicht aus dieser Entfernung, da hätten wir uns schon anbrüllen müssen, und das beruhigte mich ein wenig.

      Ich fühlte mich also ansatzweise sicher, räusperte mich, wie unser Dorfpfarrer vor der Predigt, holte tief Luft und stieß den ersten Satz heraus: »Dein Papa hat recht. Ich komme von ganz weit her.«

      »Woher denn?«, fragte sie, ihren Blick erneut auf mein Gesicht geheftet.

      Hmm. Ja, woher eigentlich?

      »Aus Arabien!«, schoss es aus mir hervor, »Aus Bagdad, wo Sindbad zu Hause ist!«

      Ein geschickter Spielzug! Ich wusste, dass Nicole ein Fan der Zeichentrickserie »Sindbad« war, die zurzeit im Vorabendprogramm lief. Ich mochte eigentlich »Heidi« viel lieber, aber Nicole fand »Sindbad«, besser, und so hatten wir das schon etliche Male zusammen gucken müssen.

      Punkt 17.50 Uhr, wenn sie dann noch bei mir war, ließ sie alles Spielzeug liegen, rannte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. »Komm, Mathias, Sindbad fängt gleich an!« Ich hatte keine Chance und musste ihr dann einfach folgen.

      Nun blickte ich sie erwartungsvoll an! Würde sie mir glauben? Sindbad und das mit Bagdad war doch eine tolle Sache!

      Aber sie verzog das Gesicht.

      »So weit her? Ist das wahr?«

      »Aber natürlich ist das wahr! Vor Jahren, als ich noch ganz klein war, hat mich ein Mann hierher gebracht, der hatte einen Turban auf und ein langes Gewand, und er war ganz schwarz im Gesicht. Und das war der Großwesir vom Kalifen von Bagdad, und er hatte den Auftrag, mich nach Deutschland zu bringen, weil man in Bagdad immer noch auf Pferden reitet und mit Kutschen unterwegs ist und mit fliegenden Teppichen. Und ich sollte hier groß werden und Auto fahren lernen. Und wenn ich dann groß bin, dann komme ich zurück nach Bagdad, und dann zeige ich denen, wie das geht.«

      »Wow«, sagte sie nur und löste ihren Blick von meinem Gesicht.

      Einen Moment später baumelte sie kopfüber mit den Beinen an der Stange, nahm drei oder viermal Schwung und landete nach einer beachtlichen Luftrolle mit den Füßen auf dem Rasen. Ich hielt mich mit den Händen an der oberen Stange fest, saß auf der unteren und staunte sie dabei an.

      »Wow«, sagte ich ebenfalls.

      Sie lachte ein wenig erschöpft und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht.

      Dann grinste sie mich an: »Aber das dauert wohl noch eine Weile, bist du Auto fahren kannst«, sagte sie und fügte flüsternd hinzu: »Bis dahin bleibst du ja noch ein bisschen bei mir.«

      Das klang so liebevoll, dass mein Kopf umgehend zu einem Glutofen anschwoll.

      Für meinen Kumpel Michael, mit dem ich als Messdiener in rotweißer Kutte beinahe wöchentlich vor dem Altar stand, zur heiligen Kommunion synchron die Schellen erklingen ließ und unserem Prälaten Wein und Weihrauch reichte, war ich der Sohn von Winnetou.

      Ich hatte gerade meine ersten Karl-May-Filme gesehen und war begeistert von dem Indianer auf dem wunderschönen schwarzen Pferd, mit dem schneidigen Fransenanzug, der immer durch diese machtvolle Felslandschaft ritt und ständig »mein Bruder!« zu seinem blonden Freund sagte.

      Old Shatterhand, das hatte mir meine Mama gesagt, war eigentlich ein Deutscher, also einer, der aus unserer Gegend kam. Vermutlich sogar direkt aus unserem Dorf, aus Hude, so jedenfalls fabulierte ich im Geiste diese Information weiter, das war doch schließlich naheliegend.

      Und