Olaf Schulze

Götterhämmerung & Walkürentritt


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wir nur noch auf die Dunkelheit warten“. In einem didaktischen Duktus begann er seinen, an einen Baumstamm gelehnten Bruder Magni aufzuklären: „Bei der Betrachtung des Sternenhimmels sehen wir, dass die Sterne im Laufe der Nacht zu wandern scheinen. Am Abend sieht man andere Sterne als am frühen Morgen, im Winter andere als im Sommer. Die Sterne aber, welche sich in der Nähe des Himmelspols befinden, gehen niemals hinter den Horizont und sind somit das ganze Jahr sichtbar. Der Kreis, der diese Sterne umschließt und scheinbar von anderen trennt, ist der innere Himmelskreis. Das sind diese Steine hier, siehst du?“ Modi zeigte mit dem Schwert auf die betreffenden Felsbrocken. „Diesen Bereich nannten die Menschen dann Asgard, die Götterheimat.“

      „Wieso nannten?“, unterbrach ihn Magni, „Vielleicht werden sie es erst in ein paar tausend Jahren so nennen, schließlich wissen wir nicht, wann wir sind.“

      Modi hasste seinen Bruder manchmal für seine schreckliche Sturheit, aber er wusste wohl, dass es das Beste war, solche Sticheleien einfach zu ignorieren.

      „Der Sommerhimmel bedeutete ihnen Midgard oder er bedeutet es ihnen heute noch oder er wird es ihnen einst bedeuten, nämlich ihren eigenen Wohnsitz.“ Modi richtete sein Schwert auf die besagten Steine und funkelte Magni an. Der hatte sich hingesetzt, reinigte sein Schwert mit einem Batzen Moos und machte den arglosesten Eindruck, den dieser Wald jemals gesehen hatte und noch sehen würde.

      „Der Winterhimmel ist ihnen ein Gleichnis für Utgrad, das Reich der Riesen. Der helle Stern, den man später als den Polarstern bezeichnen wird, nannten sie in früheren Zeiten Wotans Auge. Getrennt werden die Reiche der Menschen und der Riesen durch den Weltenreif Draupner, den sie heute die Milchstraße nennen und den wir hier mit den Querverbindungen dargestellt haben. Alles, was wir nun tun müssen, ist warten, dass es dunkel wird. Dann bestimme ich schnell den Stand der Sterne und leite mit Hilfe des Steinkreises die Konstellationen ab, errechne den ewigen Wert und beziehe ihn auf die Helligkeit unserer Fackeln dort hinten und schon wissen wir, wann wir sind.“

      „Hm“, brummte Magni und das Zwiegespräch war jäh beendet.

      Eine knappe Stunde später war es stockdunkel. Der Himmel über den Hügeln und Wiesen des südlichen Vorharzes war mit dicken Wolken verhangen. Und so blieb er auch, bis ein neuer Morgen graute.

      Es war nicht ganz einfach, den geheimen Eingang zur wahren Schlafstätte des Kaisers Rotbart im Kyffhäusergebirge zu finden und er befand sich nicht in der Höhle nahe Bad Frankenhausen, durch die täglich Touristenströme zogen, um den in Stein gehauenen Thron des sagenhaften Herrschers zu sehen. Die Besucher wären verwundert gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass sie dem wirklichen Schlafplatz sehr nahe waren. Die echte Barbarossa-Höhle befand sich 30 Meter unter dem steinernen Sitz, war aber nicht mit der darüber liegenden Höhle verbunden. Ein langer, schmaler, dunkler Gang führte dort hinein. Es bedurfte vieler Anläufe, einer soliden weidmännischen Ausbildung und eines guten Auges oder einer gehörigen Portion Glück, wollte ein Mensch das Eingangsloch aufspüren. Knochen und Skelette von Menschen und Tieren säumten den Weg im Eingangsbereich, denn eine Umkehr war nicht möglich. Ein uralter Fluch war dafür verantwortlich, dass man diesen Weg nur in eine Richtung beschreiten konnte. Wer es dennoch versuchte, kam nicht weit und blieb gelähmt im Höhlengang kleben, bis zum bitteren Ende. Das war der Hauptgrund, warum der Kaiser nicht viele Besucher empfangen musste. Eigentlich waren bis heute überhaupt nur die Bauern Müntzers und diese Tschekisten zu ihm vorgedrungen. Bis jetzt.

      Im Eingangsrahmen stand ein großer, sehr herrisch wirkender Mann in einem weiten, blauen Mantel. Er trug einen breitkrempigen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte und der voller Spinnweben und staubbedeckt war. Auf jeder seiner Schultern saß ein unnatürlich großer und tiefschwarzer Rabe. Neben seinen Beinen standen links und rechts zwei furchterregend große Wölfe, welche die Lefzen hochzogen und bedrohlich knurrten. Der Mann hob den Kopf und sah aus seinem einen noch intakten Auge in den Saal.

      „Oh Gott! Oh Vater! Oh Gottvater!“, stammelte der Kaiser Barbarossa und rutschte auf seinem Empfangssessel zusammen wie ein Ballon, der ein Stachelschwein gestreift hat.

      „Es ist schmutzig hier!“, grollte der einäugige Odin wie eine, in sicherer Entfernung zu Tale stürzende, Gerölllawine. „Deinen Gruß hatte ich mir nach über tausend Jahren enthusiastischer vorgestellt. Aber ich kann damit leben, mein Sohn.“

      Der so angesprochene Barbarossa, der in Wirklichkeit Odins Sohn und der Donnergott Thor war, zappelte auf seinem Stuhl herum, als gelte es einer Hundertschaft von Skorpionen auszuweichen.

      „Bist du gekommen, mich von dieser Maskerade zu erlösen?“, fragte er vorsichtig. Thor wusste sehr genau, dass dies mit Sicherheit nicht der Grund war, weshalb sein Vater aus Walhalla herabgestiegen war. Wenn ihm der Alte eine Nachricht hätte schicken wollen, so wäre einer seiner Wölfe oder Raben ausreichend gewesen, dachte Thor. Nun hatte der oberste aller Götter aber gleich alle vier Tiere mit in diese Höhle gebracht und trug in seiner Rechten zu allem Überfluss den Speer Grungnir, der sein Ziel niemals verfehlte. Thor schwante nichts Gutes. Wenn sein Vater in vollem Ornat anrückte, dann musste etwas Bedeutendes und sehr Beunruhigendes vorgefallen sein. Huginn, derjenige der Raben, der die Gedanken verkörperte, funkelte Thor aus seinen pechschwarzen Augen feindselig an und Munnin hackte sich gerade genüsslich eine große Spinne von seinem Federkleid, um sie kurz darauf seelenruhig zu verzehren. Der Rabe Munnin wirkte alles in allem eher unbeteiligt. Er stand für die Erinnerung und Thor dämmerte es, dass Erinnerungen wohl nicht das Thema der nächsten Minuten wäre. Aber er brauchte Zeit, sich vom ersten Schock zu erholen und seine grauen Zellen wieder neu zu postieren, auf dass er der Auseinandersetzung mit seinem Erzeuger gewachsen wäre.

      „Natürlich nicht!“, brüllte Odin. „Und du weißt das ganz genau!“

      „Ähem, ich freue mich immer, dich zu sehen, mein Vater, äh, Gott, ich meine – Gottvater“, ruderte Thor hilflos durch das ihm momentan zur Verfügung stehende Vokabular.

      „Lass uns die Sache verkürzen“, schaltete sich Odin wieder ein und Thor stellte für sich fest, dass sein Vater noch immer kein Freund der großen Worte und des langen Herumredens war und deshalb gleich auf den Punkt kommen würde.

      „Du weißt“, sagte Odin, „dass ich noch nie ein Freund der großen Worte und des langen Herumredens war und deshalb immer gleich auf den Punkt komme.“

      „Ja, ich weiß“, sagte Thor wahrheitsgemäß.

      „Ich habe nur eine einzige Frage, mein Sohn.“

      „Und die wäre, ich meine, bitte, ähem, frag ruhig“, versuchte Thor seinen Vater nur sehr halbherzig zu animieren.

      „WO IST DEIN HAMMER?“, schrie der mächtigste aller Götter und betonte die Vokale überaus lange und schrill.

      Thor schaute erschreckt an seiner Bettstatt hinunter und stellte fest, dass Mjöllnir, sein alles zerschmetternder Donnerhammer, nicht mehr an der Stelle lag, wo er hätte sein sollen. Thor registrierte mit einem leichten Anflug von Panik, wie sich seine eben neu formierten grauen Zellen schnell wieder hinwarfen und Deckung hinter den Schädelknochen suchten.

      Sabrina saß an ihrem Arbeitsplatz vor dem PC mit der Layout-Software, in der sie ihre Artikel gleich in der richtigen Länge einfügen konnte. Eine Tasse kalten Kaffees stand neben ihr und der tägliche, obligatorische Polizeibericht flimmerte grünlich auf ihrem Bildschirm, als fürchte er seine eigene Veröffentlichung. Wenn es wenigstens ein ordentliches Zeilenhonorar dafür gegeben hätte.

      Sie hatte aber als fest eingestellte Redakteurin kein Zeilenhonorar als Berechnungsgrundlage ihrer journalistischen Arbeit. Und ihre Bezahlung hatte sie sich während des Studiums auch anders vorgestellt. Mit diesen paar Euro konnte sie jedenfalls noch keine Familie gründen. Ihren Eltern gefiel es überhaupt nicht, dass sie mit 28 Jahren noch keine feste Beziehung eingegangen war und wie Sabrina ihre Mutter kannte, machte die sich bestimmt große Sorgen um den Fortbestand der Familie. Doch Sabrina hatte sich erst einmal andere Prioritäten