Peter Brock

Das schöne Fräulein Li


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Satz von Klara, kaum dass sie ihren Marmeladenbrotbissen hinuntergeschluckt hat: «Vielleicht ist ja auch Die Nacht von ihm zu sehen, ein schreckliches Bild, aber so authentisch. Findest du nicht auch? Oder was Neues. Ach, ich bin ja so gespannt!»

      Kappe mag Max Beckmann eigentlich gar nicht. Verdrehte und abgetrennte Gliedmaßen kennt er aus der Gerichtsmedizin, hässliche Fratzen aus dem Vernehmungszimmer. «Ja, vielleicht …»

      In diesem Moment wirft Hartmut die Tasse Milch vom Tisch. «Hartmut, pass doch auf! Ich hab zigmal gesagt, du sollst nichts an den Rand stellen.» Klara ist sauer. Sie räumt den Schlamassel weg. Als sie vor Kappe auf den Knien die Milch aufwischt, sagt sie trotzig: «Ich mag aber Beckmann, und ich will da hingehen!»

      «Gut, wir reden noch mal drüber. Und versprochen, ich schau mich heute schon mal in deinem Kiez der Schönen und Reichen um. Vielleicht wird ja bald ’ne Wohnung frei, wenn ich den chinesischen Großhändler Li des Mordes überführen kann.»

      «Mach dich nur lustig!», entgegnet sie.

      «Nein, im Ernst! Der wohnt da, Kantstraße, und da muss ich wirklich hin, und vielleicht buchten wir ihn ja ein.» Mit diesen Worten und einem Klara auf die Stirn gehauchten Kuss ist Kappe weg.

      Wenig später steht er verärgert an der Tramhaltestelle, als ihm einfällt, dass die Straßenbahnen noch immer nicht fahren. Nun muss er zum Alexanderplatz laufen.

      «Na, zurück von der Reise ins Land der Schlitzaugen?» Mit diesen Worten begrüßt ihn Galgenberg.

      Kappe erzählt vom Wochenende und erhofft sich ein wenig Anerkennung von dem älteren Kollegen.

      Doch Galgenberg meint nur, solange man bloß zwei Kinder und nicht wie er fünf habe, könne man doch locker mal einen Sonntag dem Dienst opfern.

      «Ja, einen Sonntag schon, aber nicht auch noch die Ehe.» Kaum hat er das gesagt, merkt Kappe auch schon, dass er zu viel preisgab von seinen Problemen, obwohl Galgenberg manches Mal schon als väterlicher Berater, auch in Liebesdingen, fungiert hat. So schnell und so direkt hat er ihm eigentlich nicht sagen wollen, dass bei ihm der Haussegen schief hängt. Schnell versucht Kappe, das Thema zu umgehen, und erzählt seinem Kollegen von seinem Besuch bei Wong und davon, dass bald der Dolmetscher Tam erscheinen müsse.

      Galgenberg bemerkt diesen abrupten Themenwechsel sehr wohl und sagt nur: «Ach, Klara wird sich schon wieder einkriegen. Du darfst den Chinesen-Fall auch nicht zu ernst nehmen.»

      Anders als die Kriegsheimkehrer auf den Grosz-Bildern hat Galgenberg, zumindest äußerlich, nichts an der Front verloren, weder einen Fuß noch einen Arm oder ein Bein. Und seine Schussverletzung ist auch verheilt.

      Dennoch, stellt Kappe immer wieder fest, ist er durch den Krieg ein anderer geworden. Er ist zynisch geworden. Manchmal kommt er Kappe geradezu defätistisch vor. Es scheint, als habe Galgenberg seine schützende Soldatenuniform, die sicher auch seine Seele umschloss, nicht mehr abgelegt. Sie ist festgewachsen, hat sich eingebrannt oder ist sonst wie dageblieben. Jedenfalls geht Galgenberg offenbar nichts mehr wirklich nahe. Das Mitgefühl mit Opfern, der Eifer, einen Fall zu klären, die Erschrockenheit über eine blutige Tat – alles weg. Früher hätte Galgenberg niemals gesagt, dass es doch genug Chinesen gebe drüben in Asien und dass es daher nicht so schlimm sei, wenn es einer weniger wäre, zumal die hier sowieso nur mit der deutschen Industrie konkurrieren. Nun aber tut er es, und Kappe schaut entsetzt von Kaffee und Lokal-Anzeiger auf. Außerdem versteht er den Seitenhieb auf die Industriekonkurrenz nicht.

      Galgenberg merkt das. «Aber mein Junge, was würde unsere chemische Industrie machen, wenn sie kein Kokain mehr verkaufen könnte? Was, wenn hier in der Friedrichstraße, am Potsdamer Platz, im Femina, an der Goldelse plötzlich alle dem aufputschenden Kokain abschwören und zum Opium der Chinesen greifen würden? Wär doch schade um die schönen Nackttänzerinnen, die schnellen Radrennfahrer und die einfallsreichen Künstler, wenn ihnen allen der Kokain-Kick fehlen würde.» Galgenbergs schwerer Körper bebt vor Lachen.

      Kappe findet das nicht lustig. Natürlich weiß er, dass es Opiumhändler aus Asien gibt und dass ohne Kokain, das offiziell nur auf Rezept in kleinen Mengen abgegeben werden darf, vieles anders wäre im Nachtleben Berlins. Aber es gibt nun einmal Apotheker und Ärzte, die es mit den Rezepten nicht so genau nehmen, und Kollegen bei den Behörden, auch bei der Polizei, die eben nicht alle Kraft darauf verwenden, die illegale Nutzung zu unterbinden. «Klar, wer will, soll sein Kokain schnupfen. Is mir schnuppe! Aber unser Fall hat nichts mit Rauschgift zu tun. Ich hab das ärmliche Zimmer gesehen. Der hat Nippes an alte Mütterchen verscherbelt. Und außerdem, Mord ist Mord. Der muss aufgeklärt werden!», sagt Kappe aus Überzeugung.

      «Nu mal janz langsam! Ich hab hier noch so viele Akten, fahr du mal zu dem Konkurrenten des Chinesen, für den das Opfer arbeitete.» Kappe ist froh, herauszukommen aus dem Präsidium. Mit der Hochbahn fährt er bis zum Savignyplatz und geht dann zur Kantstraße, in der Li wohnt.

      Es sind hier schon feinere Herren und vornehmere Damen unterwegs als in seinem Kreuzberg.

      Kappe genießt den kleinen Spaziergang, kauft sich unterwegs eine heiße Wurst und freut sich, dass er hier auf der Straße auch mal einen Mercedes oder gar einen Maybach sieht und nicht nur knattrige AGAs, also Wagen der Aktiengesellschaft für Automobilbau.

      Herr Li ist das Gegenteil von Herrn Wong. Er ist klein, feingliedrig, schlank. Er wohnt nicht, nein, er residiert in der Beletage. Mit Stuck an den gut vier Meter hohen Decken, mit alten, ausgesuchten Möbeln auf dem Eichenparkett, mit Hausangestellten, die in anthrazitfarbene Uniformen westlichen Schnitts gekleidet sind und sich in vornehmer Zurückhaltung üben. Und das alles umgeben von einem exotischen Duft. Unaufdringlich, etwas süßlich, aber nicht zu schwer, leicht zedernhaft oder besser zitronenhaft, aber nicht sauer.

      Herr Li, der tatsächlich, wie ihm Tam gesagt hatte, ausgezeichnet Deutsch spricht, bemerkt, dass sich Kappe umschaut und zu ergründen versucht, was in der Luft liegt. «Das ist unser Tee, grüner Tee! Ich bekomme ihn direkt von meinem Bruder aus China. Er ist rein, und so duftet er auch. Darf ich Ihnen eine Tasse

      anbieten?»

      «Gerne! Man muss Neuem aufgeschlossen sein.» Kappe ist stolz, statt «Ja, danke!» so einen dem Umfeld entsprechenden Satz zustande gebracht zu haben. Schließlich sitzt er Herrn Li in einem von vier mit schwarzem Kalbsleder überzogenen Sesseln gegenüber.

      Eine junge Chinesin, deren dünne Arme Modell hätten stehen können für die feingliedrigen Henkel der Teetassen, schenkt ihm die heiße blassgrüne Flüssigkeit ein. Etwas, das Kappe noch nie getrunken hat. Nun, er ist sowieso kein begeisterter Teetrinker. Aber wenn, dachte er immer, dann trinkt man doch Kräutertee oder schwarzen Tee. Aber grünen? Kräftig sieht er jedenfalls nicht aus, findet Kappe. Und der Geschmack?

      Herr Li, den Kappe auf Ende fünfzig schätzt, schaut mit seinen jugendlich-leuchtenden Augen interessiert durch seine Hornbrille, als sei es ein wissenschaftliches Experiment, einen untersetzten Berliner Kommissar grünen Tee trinken zu sehen.

      Bitter, mein Gott, wie bitter, und das sieht man gar nicht, denkt Kappe, als er den ersten Schluck genommen hat. Aber er lässt sich nichts anmerken, lobt den Geschmack, trinkt – eigentlich nur, um die junge Chinesin noch zweimal ganz aus der Nähe sehen zu können – insgesamt drei Tassen und spürt hinterher, dass nicht nur Kaffee, sondern auch grüner Tee eine nicht zu unterschätzende aufputschende Wirkung hat.

      Schließlich kommt Kappe zum Thema. Ob er oder jemand aus seiner Firma hinter dem Mord an Keung stehen könnte?

      Absurd! Herr Li lacht darüber.

      Er ist der erste Chinese, den Kappe kennenlernt, der anders lacht. Nicht so schrill, nicht so hoch und nicht so laut. Gesitteter, denkt Kappe. Er spuckt auch nicht auf den Boden. Schließlich liegen da teure Perserteppiche.

      Li bemerkt Kappes Blick. «Das hier hat sich meine Familie alles erarbeitet. Wir sind die älteste hier ansässige Familie.»

      «Sie verkaufen Tee?», will Kappe wissen.

      «Nein, wir haben einen Großhandel für Steinschnitzereien, Porzellan und Lack.»

      «Keinen