nicht. Zudem ist es schwer, eine Genehmigung für den Lebensmittelverkauf von Haustür zu Haustür zu bekommen.»
«Und Sie vertreiben Ihre Waren über Händler?»
«Ja. Wie hier bei allen Großhändlern üblich, kümmern sich selbständige Händler um den Vertrieb.» Herr Li streicht sich durch die zurückgekämmten, pomadisierten Haare. «Aber nicht alle bieten wirklich chinesische Waren an. Manche verkaufen deutsches Porzellan, manche geben billige Steine als Jade aus, und wieder andere handeln gar mit Illegalem. Ich will dazu nicht mehr sagen. Ich sage Ihnen nur, wir sind eine honorige Familie.»
Der Satz klingt wie die Regierungserklärung eines Deutschnationalen, denkt Kappe. «Und wie ist Ihr Verhältnis zu Herrn Wong? Er ist doch der direkte Konkurrent von Ihnen.»
«Ach, Berlin ist groß. Da ist genug Platz für viele. Das Verhältnis ist gut. Was soll ich sagen?»
«Mit Wongs Vorgänger, hab ich gehört, haben Sie besser zusammengearbeitet. Er war noch ein Händler alten Stils. So wie Sie.» Kappe nutzt nun Informationen, die er von Tam erhalten hat. Aber wie er feststellt, nützen ihm diese bei einem so aalglatten Gesprächspartner wie Li nicht sonderlich viel.
«Ich kann Ihnen nicht folgen», entgegnet dieser.
«Na ja, früher war es ein Miteinander, wurde mir gesagt, zwischen Ihnen und dem anderen Großhandelshaus. Seit Wong es übernommen hat, wirbt er Ihnen Händler ab und macht Ihnen Gebiete streitig.»
«Nein, Herr Kommissar, so ist es nicht! Wenn Sie so was gehört haben, kann es sich nur um dummes Geschwätz handeln», wiegelt Li ab.
Nichts ist aus ihm herauszubringen, das spürt Kappe. Während er überlegt, wie er es anstellen soll, die 08/15-Frage, wo Li sich zur Tatzeit aufgehalten habe, zu stellen, wobei sich Kappe nicht vorstellen kann, dass dieser feine Herr des Nachts in Kreuzberg auf offener Straße einen Mann tottritt, sagt Li in die Gesprächspause mit einem offenen Lächeln: «Wenn Sie wissen wollen, und das wollen Sie sicher, wo ich zur Tatzeit war, kann ich Ihnen sagen, nachdem ich die Tatzeit aus der Zeitung erfahren habe, dass ich die Stunden des Abends mit einer reizenden jungen Dame verbrachte.» Li macht eine Pause und genießt den fragenden Blick im bärtigen Gesicht des durch den Tee etwas nervös gewordenen Kommissars Kappe. Dann sagt er jedoch: «Mit meiner Nichte.» Li greift zu einem kleinen silbernen Glöckchen und bittet die Chinesin mit den Teetassenarmen, seine Nichte zu holen.
Das hätte er nicht tun sollen. Herr Li hätte sie nicht rufen sollen, seine Nichte. Er, Kappe, hätte ihm das Alibi auch so geglaubt. Und hätte er Fräulein Li nicht gesehen, nie kennengelernt, sein Leben wäre ein anderes, ein ruhigeres gewesen.
Aber das kann er in dem Moment, in dem ein Flügel der großen, weiß lackierten Tür aufgeht, nicht ahnen. In diesem Moment spürt er nur, dass es ihn in der Magengegend zwickt. Ist es der Tee, ist es sein Herz, das tiefer rutscht, fragt er sich. Oder das Würstchen, dessen Zutaten vielleicht nicht ganz frisch waren oder womöglich nicht einmal von Tieren stammten? Aber der Frauenmörder und Fleischer Karl Großmann, die»Bestie vom Schlesischen Bahnhof«, sitzt ja schon in Untersuchungshaft, beruhigt sich Kappe. Verrückt, was ihm in diesem Moment alles durch den Kopf schießt. So viel, dass er sich nicht rechtzeitig erheben und vorstellen kann.
«Das ist Lienhwa Li, meine Nichte», sagt Herr Li. «Sie studiert hier an der Hochschule für Politik gemeinsam mit meinem Sohn.» Und dann zu seiner Nichte geneigt: «Und dies, liebe Lienhwa, ist Kommissar Hermann Kappe.»
Erst als er diesen Satz wiederholt bekommt, steht Kappe auf und gibt Fräulein Li artig und unsicher wie ein kleines Kind die Hand und verharrt mit auf sie gerichteten Augen.
Herr Li rettet die Situation, indem er seine Nichte bittet, sich zu ihnen zu setzen. Dann klingelt er erneut, damit die Teetassenarm-Chinesin auch der Nichte grünes heißes Wasser eingießen kann.
Aber Kappe achtet nicht darauf. Seine Augen und Gedanken haben ein neues Ziel gefunden. Die kleine Dienerin, an die denkt er längst nicht mehr, die Sorgen mit Klara, der Mord, all das scheint auf einmal weit weg zu sein. Kappe staunt nur noch. Über diese wunderschöne Erscheinung in weiblicher Gestalt und über sich, dass er sich als erfahrener Kommissar und Ehemann noch dermaßen aus den gut geschnürten Schuhen hauen lässt.
Freilich, vollkommen unverständlich ist es auch für einen Außenstehenden nicht. Fräulein Li ist hübsch, hübscher als alle Chinesinnen, die Kappe jemals gesehen hat. Aber mehr noch, und das macht es erst richtig problematisch, sie ist attraktiver als alle Frauen, denen Kappe jemals begegnet ist. Diese Grübchen beim Lächeln links und rechts der kleinen Stupsnase, diese kleinen Fältchen neben den mandelförmigen Augen, diese schon aus der Ferne pfirsichzart wirkende Haut, dieser jugendliche, schlanke Körper, den man unter dem ausgesucht eleganten, hellgrauen, schlichten Kleid gut erahnen kann.
Kappe stottert seine Fragen mehr, als dass er sie preußisch beamtenhaft vorträgt. Natürlich bestätigt Fräulein Li das Alibi ihres Onkels, aber Kappe hört es nicht. Er hört nur den Klang ihrer Stimme, der so jung und zart ist.
Ihr in chinesischer Sprache geschulter Singsang nimmt den deutschen Worten jegliche Härte und betont die Vokale anders, manchmal falsch, aber auf jeden Fall reizend. Sicher kommt sie auch aus Südchina, wie die meisten in Berlin lebenden Chinesen, spricht Kantonesisch und hat für jeden Vokal neun verschiedene Tonhöhen, während Hochchinesisch ja nur vier verschiedene Tonlagen kennt.
Tam hat ihm das erklärt.
Dass er ausgerechnet jetzt daran denken muss! Was hat sie gesagt? Kappe ist verwirrt.
Lienhwa Li schließt den Mund mit einem stillen, reinen Lächeln. Einen Moment lang schaut sie Kappe an, dann senken sich ihre Augen auf die über dem Schoß gefalteten Hände.
«Wenn Sie keine Fragen mehr haben, lassen wir Lienhwa wieder ans Studieren gehen, nicht wahr?»
Obwohl Kappe die Frage von Herrn Li hört, öffnet er den Mund nicht für eine Antwort. Er fürchtet, dass sich sonst seine Gedanken, denen er nachhängt, unbewusst einen Weg zur Zunge bahnen und als Worte für jeden hörbar werden könnten. Und nichts wäre peinlicher als das. Kappe nickt deshalb nur.
Fräulein Li verabschiedet sich.
DREI
VIELLEICHT IST IHR VATER JA PERVERS. Und ihr Großvater auch. Denn wenn die Töne, die sie so schön finden, Ausdruck tiefster, dunkelster Verzweiflung sind – und vieles spricht dafür –, wenn diese Klänge Einsamkeit, Trauer und Todesangst widerspiegeln, wäre es doch pervers, sich daran zu erfreuen. Aber sie tun es. Seit Kweihwa Li ein Kind war, tun sie es. So wie viele Männer. Eigentlich wie alle älteren Männer, die sie kennt. Erst jetzt merkt sie, dass sie sich noch nie überlegt hat, wie sich die Grillen dabei fühlen. Nun singen sie wieder. Laut und schrill. Kweihwa Li tritt aus der Schlange, in die sie sich vor der kleinen Post in Qingtian eingereiht hat, und beugt ihren schlanken Körper ein wenig zu dem alten Mann hinunter, der auf der Straße hockt und vor sich zwei Dutzend Tontöpfe mit lebendem Inhalt aufgestellt hat.
In sechs darüber gestapelten kleinen Korbkäfigen, durch deren enges Geflecht man die Insekten mehr erahnen als sehen kann, zirpen Tiere vor sich hin. Sie symbolisieren das Frühjahr.
Das ist nun da. Ihr Großvater freut sich seit Jahren, wenn er diesen Klang der sprießenden Natur, der wärmer strahlenden Sonne über den Winter retten kann, wenn seine Grille überlebt. Aber sie muss ihre Tage in einem kleinen, engen, dunklen Gefängnis fristen. Und vielleicht ändert sich deshalb im Laufe der Zeit ihr Klang, vielleicht sind es bald nicht mehr die Töne des Frühjahrs, die sie zum Besten gibt, sondern die der Einsamkeit und der Todesangst.
Kweihwa Li hat sich noch nie Gedanken gemacht über Grillen, seit sie vor neunzehn Jahren auf die Welt gekommen ist. Aber nun steht sie da auf der staubigen Straße hinter den Müttern, die Post von ihren Söhnen erwarten, und den Männern, die sich Geschäftsbriefe erhoffen mit neuen Bestellungen für Schnitzereien.
Und Kweihwa Li? Sie hofft auf einen Brief ihrer Schwester. Sicher wird Lienhwa wieder von ihrem politischen Kampf gegen die Ungerechtigkeit