Peter Brock

Das schöne Fräulein Li


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mit ihrem Leben hier nichts zu tun, denkt sie. Die Kommunisten kämpfen in Peking oder Shanghai. Und Freiheit, Gleichberechtigung? Ihr Vater wird schon wissen, was gut für sie ist. Wenn man sich um etwas kümmern könnte, dann vielleicht um die Freiheit der Grillen.

      Aber bald hat sie auch diese vergessen. Mit kleinen schnellen Schritten tippelt sie auf ihrem Rückweg aus der Post an den Tierchen vorbei, den Brief in den Händen. Sie will ihn erst zu Hause öffnen und alleine auf der Bank hinterm Haus lesen.

      Liebe Kweihwa,

      meinen Dank will ich Dir zuerst übermitteln für den schönen Anhänger und den feinen Tee. Das bringt mir ein Stück Heimat in der Ferne. Das ist lieb. Ich denke oft an Dich und hoffe, dass es Dir gut geht, Mama und Papa auch. Ich schreibe ihnen ja gleich noch einen eigenen Brief. Oft denke ich, wie schön es doch wäre, wenn Du mich hier besuchen könntest. Und wir könnten in Revuen gehen und in Clubs. Da wird getanzt. Manche Frauen, Du wirst es nicht glauben, tanzen hier ganz nackt. Ausdruckstanz nennen sie das. Aber es gibt auch Ausdruckstanz, bei dem die Frauen angezogen sind. Sicher, die Nackten, das ist eher was für Männer. Und manche der Frauen verkaufen sich auch. Eine hat mir mal erzählt, wenn man genug Kokain nimmt (das wird hier genommen und nicht so häufig Opium wie bei uns), dann mache es einem gar nichts mehr aus, mit verschiedenen Männern … Dann mache das sogar Spaß. Du siehst, man kommt hier sogar mit solchen Menschen in Kontakt. Aber nein, liebe Kweihwa, hab keine Angst! Deine Schwester macht so etwas nicht.

      Aber ich muss zugeben, es ist hier schon offener. Also man küsst sich schneller als bei uns, und dass man einen Freund hat, bevor man heiratet, das ist auch normal. Ach, erst neulich traf ich einen sehr netten schüchternen Mann, einen älteren, bärtigen. Zugegeben, er ist verheiratet, und er ist wohl auch nichts für mich, aber es ist schön, dass es Männer gibt, die so ganz anders sind als unsere. Nicht so dem Patriarchat verhaftet. Ach, welch Wort verwende ich hier, Schwester –ich meine, einfach nicht so lautsprecherisch. Ganz im Gegenteil, er ist so zurückhaltend, so … Na ja, ich glaube jedenfalls, ich habe ihn sogar verlegen gemacht. Stell Dir das mal vor, ich mache einen ausgewachsenen deutschen Mann verlegen! Und dabei ist er sogar Polizist. Ach ja, das hab ich Dir noch gar nicht geschrieben: Ein Händler von Onkels Konkurrent wurde erschlagen. Schlimm! Ein Mord! Wir als Konkurrenz sind verdächtigt worden. Wie absurd! Noch hat die Polizei keinen Täter. Der Bärtige sucht nach ihm. Ein bisschen hab ich ja Angst, dass es ein Ausländerfeind gewesen sein könnte, der den Mann totschlug. Neuerdings liest man hier nämlich in Zeitungen nicht nur Nettes über Menschen aus fremden Ländern. Eine Zeitung, der «Lokal-Anzeiger», nennt Ausländer gelegentlich «Parasiten am deutschen Volkskörper». Er gibt ihnen die Schuld dafür, dass die Preise hier steigen. Dabei sind die wirklich niedrig. Viele studieren hier, weil es billiger ist als in Paris. Nur ein Drittel so teuer wie dort ist es hier.

      Also, wie gesagt, ich fände es schön, wenn Du mich besuchen könntest. Es ist nur so, das las ich neulich, dass man es Ausländern schwerer machen will, nach Deutschland zu kommen. Man bekommt nur noch für vierzehn Tage einen Sichtvermerk und auch nur, wenn es einen zwingenden Grund dafür gibt. Aber ich denke, Onkel könnte da schon etwas machen. Ich werde mal bei der chinesischen Gesandtschaft nachfragen. Die ist ja nicht weit von hier entfernt, am Kudamm. Du brauchst auch keine Angst haben. Im Westen, wo wir wohnen, ist alles sicherer als im Osten, wo die Händler leben und die Arbeiter. Es leben zwar sehr viele Russen in der Gegend, aber das sind feine Leute. Auch die meisten meiner Mitstudenten wohnen hier. Dir wird es hier gefallen. Wir werden einkaufen gehen, ins Theater und, wenn Du magst, auch mal in Piscators proletarisches Theater. Nun, liebe Kweihwa, nachdem ich so wirr und so viel geschrieben habe, muss ich los. Wir wollen uns heute Abend im Verein der Chinesischen Studenten treffen. Wenn wir weiter so wachsen, haben wir bald dreihundert Mitglieder.

      Du fehlst mir, Schwester!

      Bis dahin alles Liebe,

      Deine an Dich denkende und Dich nicht vergessende Lienhwa

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