Petra A. Bauer

Unschuldsengel


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hinter den Worten. Er sieht sie hilflos ans Bett gefesselt. Ihre Antwort soll sie bekommen. Er stopft ein Tuch in ihre Kehle, damit sie seine Erwiderung stumm hinnimmt.

      Sie weiß nun, dass er noch da ist, aber sie soll es auch spüren. Noch wartet er ab, bis ihre Pein sich steigert, bis er ihre Angst riechen kann. Dann beginnt das Spiel mit einem wahnsinnigen Schmerz unterhalb ihres Bauchnabels. Teuflisch. Lustvoll. Bestialisch. Er ist sich sicher, dass das Wort bestialisch den Grad ihrer Qual angemessen beschreibt. Er dreht das lange Messer genüsslich in ihrem unwürdigen Fleisch herum, bevor er es heraus zieht, um es an anderen Stellen durch die porzellan farbene Haut zu jagen. Das Farbspiel gefällt ihm in diese m Stadium am besten, wenn der Kontrast noch gut zu sehen ist. Rot und Weiß. Wie Rosen im Schnee. Später verteilt sich das warme Blut überall. Wonnig patscht er darin herum, doch wenn alles rot ist, bietet es ihm keinen wahren Genuss mehr. Er liebt Kontraste, Gegensätze, das Unvereinbare. Wenn sich die Unterschiede auflösen, wenn das Fleisch nicht mehr von der Umgebung zu unterscheiden ist, nimmt er den Frauen stets die Augenbinde ab. Er sieht ihnen in die flehenden Augen und lässt das kühle Eisen langsam durch ihren Hals gleiten, wo eine letzte blubbernde Fontäne das Ende ihres Lebens anzeigt.

      Auch heute sieht er ruhig ihrem Todeskampf zu, wäscht sich dann sorgfältig das Blut von den Händen, zieht sich an und verlässt die Wohnung für immer. Er wird sich keiner Frau mehr nähern. Den Engel, den er suchte, gibt es nicht.

      ZWEI

      «FROLLEIN, hier könn’ Se nich einfach stehnbleiben! Se wolln doch wohl Ihr junget Lehm nich einfach wegwerfen!» Ein schnauzbärtiger Schutzmann zog Wilhelmina Kowalewski energisch von der Straße auf das Trottoir zurück. Der Fahrer einer Daimler-Limousine betätigte wütend die Hupe. «Ham Se die vielen Automobile nich bemerkt? Sind wohl nich von hier, wie?»

      Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. Mina, wie ihre Familie und die Freundinnen sie nannten, stammte aus Grube Ilse Bückgen und hatte gerade «nach Berlin gemacht». So sagte man bei ihr zu Hause in der Niederlausitz, wenn jemand in die Hauptstadt zog, um dort zu arbeiten und sein Glück zu versuchen. Bislang hatte sie Automobile lediglich von weitem und auch nur in geringer Zahl gesehen. Hier am Potsdamer Platz strömte jedoch eine wilde Mischung aus offenen und geschlossenen Automobilen, aus Pferdefuhrwerken und Fahrrädern holpernd in alle Richtungen rund um den in der Mitte platzierten Verkehrsturm.

      Die Daimler-Limousine, die sie beinahe überfahren hatte, war längst im Gewühl verschwunden. Möglicherweise hatte der Fahrer den Wagen an den Schinkelschen Torhäuschen des Potsdamer Tores vorbei zum Oktogon des Leipziger Platzes gelenkt. Vielleicht war er aber auch in die Königgrätzer Straße abgebogen und zum Anhalter Bahnhof gefahren. Wer vermochte das schon zu sagen, mündeten doch sechs Straßen in diesem Verkehrsknotenpunkt.

      Mina war am Potsdamer Bahnhof mit dem Zug angekommen und hatte ihren Koffer durch die Bahnhofshalle gewuchtet. Die Menschen waren an ihr vorbei gehastet, und niemand hatte Hilfe angeboten. Anschließend war das Geschehen auf dem Platz mit aller Macht über sie hereingebrochen und hatte sie derart in den Bann gezogen, dass sie nicht darauf geachtet hatte, wohin sie gelaufen war. Der Schutzmann hatte ihr das Leben gerettet. Wie peinlich – da war sie kaum ein paar Minuten in der Reichshauptstadt, und schon wäre sie buchstäblich beinahe unter die Räder gekommen! Das war also das Schreckgespenst, das niemand so recht zu fassen vermochte, wenn daheim gesagt wurde: «Pass auf, dass de in Berlin nicht unter die Räder kommst!» Jeder, der nach Berlin machte, musste sich beinahe zwangsläufig diesen Satz anhören, ohne zu verstehen, was damit genau gemeint war.

      Mina murmelte ein Dankeschön und eilte ein Stück den Gehsteig entlang, bis ihr bewusst wurde, dass sie gar keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie gehen musste. Sie sah den imposanten Amüsierpalast «Haus Vaterland» mit dem UFA-Lichtspieltheater und der gläsernen Kuppel des Palmensaals. Dort entlang? Dann drehte sie den Kopf und erblickte ein Gebäude mit großen Fenstern. Schall-Welle stand über den Schaufenstern des Vox-Hauses, der Geburtsstätte des Deutschen Rundfunks. Dort entlang? Sie musste sich eingestehen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte. Sie ging zurück und sprach den Schutzmann an: «Könn’ Sie mir vielleicht sagen, wie ick in die Linienstraße komme?»

      Der Schutzmann sah auf sie herab, und sie kam sich zwischen den vielen mondänen Menschen plötzlich vor wie ein Schulmädchen. Dabei war sie kurz zuvor 22 geworden. Ihre langen Zöpfe würde sie als Erstes abschneiden müssen, damit sie älter wirkte und man ihr nicht ansah, dass sie vom Land kam.

      «Sie könn’ hier inne Unterirdische steijen.» Er deutete in die Menge.

      Mina sah vor lauter Menschen rein gar nichts. «Gibt’s ooch noch ’ne andere Möglichkeit?», fragte sie.

      Der Schutzmann strich sich über den Schnauzbart, überlegte kurz und deutete dann mit dem Kopf nach rechts. «Se könn’ ooch späta inne U-Bahn steijen, wenn Se noch ’n bissken de Stadt ankieken wolln. Denn loofen Se am besten det Stückedie Leipzjer Straße runter und nehm’ die Unterirdische in Richtung Seestraße. Oranienburjer Tor müssen Se aussteijen, und denn falln Se direkt inne Linienstraße rin. Aber Vorsicht, det is nur det eene Ende, und die Linie zieht sich. Und passen Se jut uff sich uff! Det is keene schöne Jejend da. Schon ja nich für so ’n anstännjet Meedchen von außahalb.» Er lächelte sie väterlich an, wurde aber abgelenkt von etwas, das sich außerhalb von Minas Blickfeld ereignete. «Eh, du Lausebengel! Lässte wohl die Handtasche von der Dame los!» Der Schutzmann walzte in die Richtung des Taschendiebes, der so blitzartig verschwand, als wäre er nie da gewesen.

      Mina umklammerte den Griff des schäbigen Koffers noch fester. Sie hatte das monströse Ding ihrem Vater abgeschwatzt. Der Kofferinhalt stellte momentan ihr gesamtes Hab und Gut dar und durfte daher auf gar keinen Fall verlorengehen. Ein Wochenendausflug mit ihren Freundinnen hatte es offiziell werden sollen. Hätte ihr Vater gewusst, dass sie nach Berlin wollte, und auch noch alleine und womöglich für immer, hätte er den Koffer sicher nicht so bereitwillig herausgerückt. Sie würde sich melden, wenn sie Arbeit hatte und ein wenig Geld nach Hause schicken konnte. Das würde ihre Eltern besänftigen.

      Jetzt musste sie sich jedoch erst einmal selbst beruhigen. Sie war sonst nicht auf den Mund gefallen, im Gegenteil, doch alle vier Millionen Berliner schienen in diesem Moment um sie herum zu wuseln. Zu Hause in Bückchen, wie die Bürger ihren Ortsnamen aussprachen, gab es nur ein paar hundert Einwohner, und einen großen Teil davon kannte sie persönlich. Natürlich war ihr klar gewesen, dass in Berlin viel Betrieb sein würde, aber das wahre Ausmaß dessen, was auf sie zukam, realisierte sie erst hier mitten im Herzen von Berlin.

      Sie lief in die Richtung, die der Schutzmann ihr gewiesen hatte. Vorbei am Preußischen Herrenhaus und am Ministerium für öffentliche Angelegenheiten. Sie passierte Geschäfte, die die unterschiedlichsten Dinge feilboten, für die Mina kein Geld und somit nur staunende Blicke übrig hatte. Das Gewimmel der Passanten und Fahrzeuge nahm auch hier kein Ende. Am U-Bahnhof Friedrichstadt stieg sie die Stufen hinunter. Ein seltsam muffiger Geruch schlug ihr entgegen, und an das funzlige Licht musste sie sich auch erst gewöhnen. An der gekachelten Wand entdeckte sie schließlich einen Plan, auf dem die U-Bahn-Linien verzeichnet waren. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich darauf zurechtgefunden hatte, dann kam sie aber zu dem Schluss, dass es drei Stationen bis zum Oranienburger Tor sein müssten, wonach Auskunft des Schutzmannes die Linienstraße begann. Das konnte ja so weit nicht sein, dachte sie, und außerdem musste sie ihr Geld zusammenhalten. Schließlich wusste sie nicht, ob sie überhaupt Arbeit finden würde. Also stieg sie auf der anderen Seite die Stufen wieder hoch und lief die Friedrichstraße entlang.

      Viel hatte sie von zu Hause nicht mitnehmen können. Ihren Eltern hatte ja nicht auffallen sollen, dass sie länger wegbleiben würde. Und doch wurde der Koffer in ihrer Hand schwerer und schwerer. Immer häufiger wechselte sie ihn von einer Seite zur anderen, bis sie auf der Weidendammer Brücke schließlich haltmachte und sich schwer atmend an das Geländer lehnte. Unter ihr glitzerte die Spree. Ihr Traum war in Erfüllung gegangen.

      Wann immer ihre Schwestern Käthe und Gertrud eingeschlafen oder aus dem Zimmer gegangen waren, hatte sie sich ausgemalt, wie es wohl wäre, aus dem kleinen Nest in die große Stadt zu gehen. Und nun war sie endlich in Berlin. Zum ersten Mal, seit ihre Familie