die einflussreiche Cläre Stinnes bei Laune zu halten. Doch das funktionierte nicht, weil der prinzipientreue Kappe sich nicht vorschreiben lassen wollte, wie seine Ermittlungsergebnisse auszusehen hätten. Eher hätte er den Dienst quittiert. Also hatte Brettschieß es mit der Beförderung versucht, allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Kappe hatte stur weiter ermittelt und am Ende die Wahrheit ans Licht bringen können. Dabei hatte auch die Tochter von Cläre Stinnes eine Rolle gespielt, sowohl beruflich als auch privat. Die ungestüme Rennfahrerin Clärenora Stinnes hatte Kappe nämlich ziemlich den Kopf verdreht. Klara hatte die beiden beim Austausch von Küssen beobachtet, woraufhin sie kurzfristig zu Hause ausgezogen war. Kappe hatte dies sehr bekümmert. Natürlich brannte das Feuer zwischen ihnen beiden nicht mehr so heiß, schon gar nicht, seitdem zwei Kinder Klaras volle Aufmerksamkeit beanspruchten. Abends war sie immer sehr müde. Trotzdem fehlte sie überall. Nicht nur im Haushalt, sondern auch in Kappes Herzen. Und niemand war darüber mehr erstaunt als er selbst.
Er war heilfroh gewesen, als Clärenora eines Tages mit ihrem Rennwagen gen Paris aufbrach. Und noch viel froher war er, als Klara bald wieder vor der Tür stand. Danach hatten sie sich erst einmal eine Zeitlang misstrauisch beäugt, aber dann war eine ganz neue Qualität in ihre Beziehung getreten. Beinahe so etwas wie eine neue Art von Liebe.
Mina hätte vor Wut heulen können. Dabei war sie so verdammt froh gewesen, sich trotz des schweren Koffers bis zur Nummer 77 geschleppt zu haben. Auf dem Weg in den dritten Stock des Hinterhauses wäre sie um ein Haar zusammengebrochen. Ein großes Glas Wasser hätte sie gebraucht. Stattdessen stand sie nun wieder durstig auf der Straße.
«Nee, die wohnt hia nich mea», hatte eine zahnlose Alte gesagt, als Mina an der Tür klingelte, an dem das Namensschild ihrer Freundin hing. «Die is nach’n Wedding jezogn. Det wa dem Frollein hier nich vorneem jenuch.»
«Kenn’ Se denn ihre neue Adresse?» Minas Stimme zitterte. Was sollte sie nur tun, wenn Charlotte nicht aufzufinden war?
«Warten Se ma, die hat mir ’n Zettel hierjelassen, falls ma jemand nach se fraren tut.» Die Alte schlurfte durch den Flur. Ihre Erscheinung war seltsam, denn zu ihrem graubraunen abgewetzten Rock trug sie eine modische rosafarbene Bluse, die eher für ein junges Mädchen gemacht zu sein schien. Die Alte kam mit einem kleinen Blatt Papier zurück, und Mina sah, dass die Bluse noch recht neu war, wenn sie auch etliche Flecke aufwies. «Hia steht, det se jetze inne Liesenstraße wohnen tut. Den Ssettel könn’ Se ham. Und saren Se ia ’n schön Jruß! Iare Bluse jefällt ma jut. Die hab ick mia untan Narel jerissen, wo se die doch hia inn Schrank vajessn hat.» Die Alte knallte die Tür ohne ein weiteres Wort zu.
Mina schleifte den Koffer die Treppe wieder hinunter und stellte sich in den Hauseingang. Was nun? Sie sah zum Rosenthaler Platz hinüber. Mit einem Mal fielen ihr die stark geschminkten Frauen auf, die trotz der relativ frühen Stunde auf und ab liefen und hin und wieder einen Mann ansprachen. Deshalb war Charlotte also von hier fortgezogen! Als sie sich eben mit ihrem Koffer abgeastet hatte, hatte sie den Blick auf das Straßenpflaster geheftet und keinen Sinn für das Geschehen um sich herum gehabt. Die vereinzelten Prostituierten hatte sie komplett übersehen und auch nicht bemerkt, wie heruntergekommen die gesamte Gegend wirkte. Sie sollte zusehen, dass sie hier wegkam, bevor es dunkler wurde und das lichtscheue Gesindel womöglich auf sie aufmerksam wurde.
Sie hievte den Koffer weiter in Richtung des Platzes und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dieser Moloch von einer Stadt hatte mit Sicherheit nicht auf eine ungebildete Landpomeranze wie sie ge-wartet. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Und wo sollte sie hin? Sie hatte doch gar keine Ahnung, wie sie zur Liesenstraße gelangen sollte.
Sie trat gegen eine Straßenlaterne und fing sich damit den bösen Blick einer alten Frau ein, die gebeugt vorüberging.
Natürlich wusste Mina genau, weshalb sie nach Berlin gemacht hatte. Arbeit wollte sie finden. Das war der Grund, den sie auch vor sich selbst offiziell angegeben hatte, weil es zu sehr schmerzte, darüber nachzudenken, was wirklich hinter ihrer Flucht steckte. Denn eine solche war es – da konnte man beschönigen, so viel man wollte …
Siegfried war der wahre Grund. Siegfried, den sie so sehr liebte, dass es weh tat. Der mehr war als alles, was sie sich je erträumt hatte. Der ihr versprochen hatte, sie eines Tages zu heiraten. Sie hatte ihm geglaubt und sich ihm hingegeben. Was hatte das schon ausgemacht, wo sie doch ohnehin bald seine Frau sein sollte?
Als sie daran dachte, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Anstelle der Gebäude, die den Platz säumten, sah Mina den Tag vor sich, an dem Siegfried zu ihr gekommen war und verkündet hatte, dass er sie nicht heiraten dürfe. Sein Vater hatte ihm untersagt, sich mit einem mittellosen Mädchen einer kinderreichen Familie abzugeben. Falls sie sich weiterhin träfen, würde er seinen Sohn enterben. Und Adalbert Plath war ein Mann, der seine Drohungen wahr machte. Als einer der Direktoren des Braunkohlefeldes Grube Ilse, Angehöriger des Chemieunternehmens Kunheim & Co, war er es gewohnt, über Leichen zu gehen. In einer der prächtigen Direktionsvillen wohnte man nicht, wenn man ein Menschenfreund war. Seit Kunheim & Co die Braunkohlefelder gekauft hatte, war klar, wer in der Gegend das Sagen hatte.
Als Siegfried sie dann eines Tages angesprochen hatte, hatte es Mina glatt die Sprache verschlagen. Sie hatte mit «denen da oben» bislang nichts zutun gehabt. Mit ihren Freundinnen hatte sie sich gern über die arroganten Schnösel in ihren vornehmen Anzügen lustig gemacht.
Siegfried war aber gar nicht arrogant gewesen. «Junges Fräulein, bitte erschrecken Sie nicht!», hatte er gesagt, kurz bevor er ihr auf die Schulter tippte.
Heftig erschreckt hatte sie sich trotzdem. Ob es wegen der unverhofften Ansprache war, wegen seiner sanften Stimme oder weil er mit seinem Anzug und dem gestärkten weißen Hemd eindeutig als einer der Privilegierten zu identifizieren war, konnte sie später nicht mehr sagen. Sie wusste nur, dass sie ihn mit einem unsäglich einfältigen Blick angesehen hatte. Ihr hatte sogar der Mund leicht offen gestanden.
«Diese Spange dürfte Ihnen gehören», hatte er damals zu ihr gesagt.
Mina hatte sich irritiert ins Haar gegriffen, denn sie hatte gar nicht bemerkt, dass sich die schöne Haarspange, Mutters Geburtstagsgeschenk, aus ihrem Haar gelöst hatte. Sie hatte genickt, stumm wie ein Fisch. Gut, dass Charlotte mich so nicht sieht, hatte sie noch gedacht, denn die Freundin hätte sehr gelacht. Dass Mina einmal die Worte fehlen würden, das hatte sie selbst ja bis zu jenem Moment nicht für möglich gehalten.
«Darf ich mich erbieten, sie Ihnen zurück ins Haar zu stecken?», hatte der junge Mann freundlich gefragt.
Und da hatte Mina endlich ihre große Klappe wiedergefunden. «Ick weeß ja nich mal, wie Sie heißen. Wat macht denn dit für ’n Eindruck, wenn mir ’n fremder Mann an die Haare jeht?»
Der Unbekannte hatte ein zerknirschtes Gesicht gemacht und Mina die Hand gereicht. «Wie töricht von mir! Ich wollte Ihren guten Ruf sicher nicht beschmutzen. Plath ist mein Name, Siegfried Plath.»
«Wilhelmina Kowalewski», hatte Mina artig erwidert und einen Knicks angedeutet, weil sie nicht ganz sicher gewesen war, ob sich das in ihrem Alter einem Mann gegenüber schickte. So oft hatte sie zu solchen Begegnungen nicht die Gelegenheit.
Siegfried Plath hatte danach Anstalten gemacht, ihr die Spange zurückzugeben, aber der junge Mann hatte ihr ja vom ersten Moment an gefallen, und so drehte sie ihm den Rücken zu. «Machen Se ruhig! Nu kenn’ wa uns ja.»
Es hatte sich wie ein ganzer Ameisenstaat an ihrem Hinterkopf angefühlt, als Siegfried behutsam die Spange zwischen ihre kastanienbraunen Locken schob und dort befestigte. Mina hatte die Augen geschlossen und lächelte. Allerdings hatte sich dieses Lächeln in ein freches Grinsen verwandelt, als Siegfried verkündete, er wären un mehr fertig.
«Det ham Se wohl schon öfter jemacht, so geschickt, wie det jing.» Genüsslich hatte sie Siegfried Plath dabei betrachtet, wie seine Ohren sich leicht ins Rötliche zu verfärben begannen.
«Bitte, denken Sie nicht schlecht von mir! Ich habe eine jüngere Schwester. Der habe ich oft beim Frisieren geholfen», erklärte er.
«Jüngere Schwestern hab ick ooch jenuch», sagte Mina und dachte unmittelbar danach, dass