auf die Papiere, die vor ihm auf der Schreibtischplatte lagen.
Keiner der befragten Nachbarn in der Chausseestraße, wo der bestialische Mord an der jungen Frau geschehen war, wollte etwas gehört oder gesehen haben. Dabei mussten die Qualen des Mädchens doch fürchterlich gewesen sein. Kappe hoffte inständig, dass sie schon an den ersten Verletzungen gestorben war, obwohl Kniehase ihm diesbezüglich wenig Hoffnungen hatte machen können.
«Die Wunden haben zu stark geblutet», meinte dieser. «Das Herz muss noch lange gepumpt haben. Aber Näheres kann ich erst bei der Obduktion sagen.»
Irgendwo da draußen müssen doch Menschen sein, die die Tote vermissen, dachte Kappe. Menschen, die sie geliebt hatten oder die sich zumindest nach einiger Zeit fragen würden, weshalb sie sich nicht meldete. Wer würde mich eigentlich vermissen, wenn ich ermordet würde? Kappe ließ den Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger wippen. Klara natürlich. Hartmut und Gretchen würden sicher auch fragen, wo ihr Vater war. Die Kollegen würden es bemerken, wenn auch erst am nächsten Tag. Es konnte schließlich durchaus vorkommen, dass er zu Ermittlungszwecken länger unterwegs war. Obwohl Klara sicher schon nachts im Präsidium anrufen würde. Oder nicht? Und was war mit der schönen Chinesin Lienhwa Li und mit Clärenora Stinnes? Verschwendeten sie überhaupt noch einen Gedanken an ihn? Immerhin hatte jede der beiden Frauen für sich eine Zeitlang in seinem Leben eine ziemlich bedeutende Rolle gespielt.
Kappe nahm die Vernehmungsprotokolle nicht mehr wahr, sondern sah die beiden Frauen so plastisch vor seinem geistigen Auge, als könne er sie berühren. Er gab sich einen Ruck, fokussierte die Protokolle mit einiger Willenskraft und legte sie anschließend in die Akte zurück.
So ein Unsinn! Lienhwa und Clärenora waren Geschichte, und das sollten sie auch bleiben. Kappe wäre mit keiner von beiden wirklich glücklich geworden, das wusste er inzwischen. Er lebte ein völlig anderes Leben. Ihm reichte die Aufregung, die sein Beruf mit sich brachte.
Unglaublich, auf was für Gedanken er manchmal kam! Gut, dass diese nicht zu hören waren. Er würde sich ja pausenlos blamieren.
So summte er leise Die Gedanken sind frei vor sich hin, als seine Bureautür aufgerissen wurde und Galgenberg hereinplatzte. «Bei mir is ’ne Vermisstenmeldung einjetroffen! Ein jewisset Fräulein Anna Ebeling is jestern nich nach Hause jekommen.»
«Seit wann kriegst du denn die Vermisstenmeldungen?», fragte Kappe.
«Keene Ahnung. Vielleicht hat die Zentrale falsch durchjestellt. Aber hör doch mal zu! Die Beschreibung passt exaktemente auf die durchlöcherte Tote: zwanzich Jahre, schlank, braune Oogen, braune Locken.» Galgenberg legte die Notizen vor Kappe hin.
Der warf einen kurzen Blick darauf. «Die Beschreibung passt auf die Hälfte aller jungen Frauen.»
«Aber die sind nich alle jestern nich nach Hause jekomm», konstatierte Galgenberg und ließ sich in den Besuchersessel fallen, der ein bedrohliches Quietschen von sich gab. «Brauchta Öl, oder fällta bald auseinander?»
«Beides! Der ist nur für schlanke Besucherinnen konstruiert, Kollege.»
Galgenberg grinste schief, sagte aber nichts. «Wat is nu? Soll ick jemanden hinschicken, damit wir mehr erfahren und vielleicht sojar een Photo kriejen?»
Kappe suchte auf dem Blatt die Anschrift von Frau Martha Ebeling, die die Meldung gemacht hatte. «Ich übernehme das selbst! Es liegt praktisch direkt auf meinem Heimweg.»
«Heimweech klingt jut. Ick mach ooch Feierahmt für heute. Frau und Kinder rufen.» Galgenberg seufzte, erhob sich und blieb dabei beinahe in Kappes Besuchersessel stecken.
«Vielleicht solltest du nach Hause laufen, Gustav. Bisschen Bewegung! Sonst musst du dir beim nächsten Mal einen eigenen Sessel mitbringen, falls du hier noch mal sitzen willst.»
«Kann ja nicht jeder so ’n halbes Hemde sein wie du, lieber Hermann. Obwohl du ooch zujeleecht hast, wenn ick mir die Bemerkung ma erlauben darf.»
Kappe blickte an sich herunter und musste zugeben, dass sein Kollege recht hatte. Das Hemd spannte ein wenig, und über den Hosenbund hatte sich ein kleines Speckröllchen gewölbt. Das muss der Zufriedenheitsspeck sein, dachte er. Während der Zeit seiner außerehelichen Liebesabenteuer hatte er oftmals keinen Bissen herunterbringen können. Aber nachdem Klara und er sich versöhnt hatten, schmeckte ihm die Blutwurst wieder. «Nun ja, die schlechten Zeiten sind vorbei», sagte Kappe und ließ offen, was er damit gemeint hatte.
Mai 1909
Unter der Küchenbank ist er unsichtbar. Wenn Vater in dieser Stimmung war, begegnete er ihm besser nicht. Mutter schlug auch zu, wenn er sich einen Fleck auf das Hemd gemacht oder nicht aufgegessen hatte. Dann flog er einmal durch den Raum, aber das war es dann auch schon. Vater aber steigerte sich stets in blinde Wut hinein, schlug und schlug und schlug, egal, wo er traf, egal, mit was. Oft konnte er dann tagelang nicht in die Schule gehen wegen der vielen blauen Flecke. Mal war auch die Lippe aufgeplatzt, und einmal hatte er tagelang Kopfschmerzen, nachdem der Vater ihn mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert hatte. Manchmal wunderte er sich, dass noch keiner der Nachbarn die Polizei verständigt hatte. Die Leute im Haus wussten, was bei ihnen passierte. Er hatte sie darüber reden hören, und sie sahen ihn immer so mitleidig an. Mutter musste heute das falsche Essen gekocht haben, denn Vater ging sofort auf sie los, kaum dass er hungrig aus der Kneipe gekommen war. Jetzt liegt sie am Boden. Vater schlägt und tritt sie. Er würgt sie mit ihrem rosafarbenen Schal, den sie immer trägt, weil ihr so leicht kalt am Hals wird, und der zu ihr gehört wie ihre blauen Augen. Der Blick, den sie ihm stumm unter die Küchenbank schickt, fleht, dass er Hilfe holen möge. Doch er rührt sich nicht. Die Mutter schreit nun. Er kann nicht sehen, was der Vater oben tut, doch dann saust ein Stuhl auf ihren Schädel hinunter. Wieder und wieder. Als sie sich nicht mehr rührt, holt sich der Vater ein Bier und setzt sich auf die Küchenbank. Er wagt kaum zu atmen, bis Vater Stunden später zu Bett geht.
VIER
DER JUNGE MANN stellte den Koffer ab und sah auf den Zettel, ob er sich auch nicht verlaufen hatte, aber die Anschrift stimmte: Soldiner Straße 89, zweiter Hinterhof. Sein möbliertes Zimmer lag also in einer Gegend, die er früher unter allen Umständen gemieden hätte. Doch er war gezwungen, sein Geld zusammenzuhalten. Und wenn das bedeutete, dass er ab sofort bei den Ratten wohnen musste, dann war das eben so. Er konnte es nicht ändern. Noch nicht.
«Du liebe Zeit, wie riesig der ist!» Charlotte legte den Kopf, so weit es ging, in den Nacken und hielt die Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
«Deshalb ham se den wohl ooch ‹Langer Lulatsch› jenannt», mutmaßte Mina beim Blick auf den wahrhaft imposanten Berliner Funkturm.
Dieser war am 3. September bei sommerlichen Temperaturen um 25 Grad nach zweijähriger Bauzeit endlich eingeweiht worden.
Charlotte hatte Mina gefragt, ob sie mit ihr und Konrad, der inzwischen wieder aufgetaucht war, über die Funkausstellung schlendern und sich bei dieser Gelegenheit auch den Turm anschauen wollte.
Mina sagte gerne zu, hatte aber die Funkausstellung ziemlich langweilig gefunden. Die Messe fand zum dritten Mal statt, und es wurde auch in der Presse ein ziemlicher Wirbel darum veranstaltet, den sie überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Es waren vornehmlich Röhrenempfänger zu sehen sowie Kopfhörer von vielen verschiedenen Herstellern, für die Konrad Brause ein ausgeprägtes Interesse zeigte. Was sollte nur so gut daran sein, die Musik direkt in die Ohren zu bekommen? Mina hörte gerne hin und wieder Radio zur Unterhaltung während der Hausarbeit, bei der sie Charlotte zur Hand ging. Das war das mindeste, was sie für die Freundin tun konnte als Dank dafür, dass diese sie kostenlos bei sich wohnen ließ. Doch mit einem Kabel wäre sie dabei nicht einmal vom Radioapparat bis zum Küchentisch gekommen. Außerdem hätten sie sich dann auch nicht mehr unterhalten können.
Ob es nun die Kopfhörer waren oder die schlechte Luft in den Messehallen, Mina war es immer schwerer gefallen, ihr Gähnen dezent hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, und Charlotte ging es ganz offensichtlich genauso. Sie war heilfroh, als sie die schmucklosen Räumlichkeiten verließen