Tonnen Stahl waren dafür verarbeitet worden, hatte Mina in der Zeitung gelesen. Das Gebilde sollte fortan als Mittelwellensender für Radioprogramme dienen. Unterhalb des Sendemastes war eine verglaste Aussichtsplattform angebracht, und auf halber Höhe befand sich ein Restaurant. In dieses Restaurant wollte Konrad Brause Lotte und Mina einladen.
Doch je länger Mina nach oben sah, umso mulmiger wurde ihr bei dem Gedanken, in einen engen, wackeligen Fahrstuhl zu steigen und keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben.
«So, dann lasst uns mal hochfahren!», sagte Charlotte schließlich energisch und schob Mina und Konrad in Richtung Funkturm.
Mina ließ sich jedoch nicht schieben. «Lotte, bitte sei mir nich böse, aber ick kann da nich ruff. Ick hab jedacht, et wär nich mehr so schlümm, aber ick bin sicher, ick halte den Weech nach oben nich aus, wenn ick det hier sehe.» Bei dem Gedanken daran, wie hoch alles erst von oben aussehen würde, wenn sie sich doch hier unten schon gruselte, wurde ihr beinahe schwindelig.
«Mina, du siehst ja käseweiß um die Nase aus. Hast du Höhenangst?»
«Ick gloob schon. Uff so wat Hohem war ick ja bisher noch nie. Bitte, lasst mich hier unten! Wir machen een andermal wat Schönet zusamm. Aba bitte nich da hoch!» Mina machte kugelrunde Augen, zog die Stirn in Falten und gab insgesamt ein ziemlich jämmerliches Bild ab.
«Beruhige dich doch! Wir müssen da nicht hoch. Wir bleiben unten und gehen woandershin. Nicht wahr, Konrad? Das macht dir doch auch nichts aus, oder?»
Aber Mina wehrte ab. «Ick weeß doch, wie ihr euch druff jefreut habt. Jeht ohne mir hoch! Mir macht det nüscht. Ick hab det Ding jetz von Nahem jesehn, und det reicht. Ick koof ’ne Ansichtskarte für meene Familje, und denn fahr ick nach Hause und machet mir ’n bissken jemütlich.»
Charlotte wollte protestieren, aber Mina versicherte ihr, dass es ihr wirklich nichts ausmachen würde.
Konrads Protest war ohnehin verhaltener ausgefallen. Er war vermutlich froh, seine Lotte wieder für sich zu haben, so selten, wie sie Zeit füreinander hatten.
«Gut, aber pass auf dich auf!», sagte Lotte.
«Ja, Mutti!» Mina lachte. «Hör ma, ick bin ja nich zum ersten Mal alleene in Berlin untawegs.» Sie winkte den beiden zu, als sie in den Fahrstuhl einstiegen, und winkte noch, als sich die kleine Kabine schon nach oben in Bewegung gesetzt hatte. Doch beim Hochschauen ergriff das Schwindelgefühl erneut von ihr Besitz, und sie schwankte ein wenig. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
«Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein? Sie sind ja vollkommen bleich.»
Mina ließ es geschehen, dass der Mann sie zu einer Parkbank führte, die am Fuße des Funkturms stand, und sie mit Nachdruck darauf platzierte.
Der Unbekannte öffnete seine Aktentasche und holte eine Thermoskanne heraus. In den Deckel, der gleichzeitig als Becher diente, goss er etwas ein und reichte es Mina. «Kräutertee», sagte er. «Der wird Ihnen auf die Beine helfen.»
Der Tee war nur lauwarm, aber er tat gut. Auch dass sie sitzen konnte und sich jemand um sie kümmerte, half viel.
«Danke. Det war sehr nett von Ihnen.» Mina gab den leeren Becher zurück.
«Keine Ursache! Stammen Sie aus Berlin?»
«Wieso?»
«Sie reden so.»
«Nee, ick komm aus der Lausitz. Aber wir könn’ ooch keen Hochdeutsch.» Mina verzog das Gesicht. Es war ihr ein bisschen peinlich, dass sie auf einen so offensichtlich kultivierten Mann den Eindruck einer Berliner Rotzgöre machte.
«Das ist doch charmant, mein Fräulein.» Der Mann lächelte sie an und fixierte sie mit seinem Blick. «Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Gestatten, Emil Weinhaus.» Er lüpfte leicht den Hut.
«Ick bin Wilhelmina Kowalewski.»
«Entzückender Name! Sie haben wohl kaisertreue Eltern gehabt?»
«Zumindest ham wir Kaiser Wilhelm mal bei einer Parade Unter den Linden jesehn, als ick noch kleen war.» Mina musste kurz an die Propellerschleifen denken und an das Familienphoto, das ihren gefallenen Bruder zeigte. Berlin riss alte Wunden wieder auf.
Sie kamen ins Plaudern.
«Waren Sie auf der Funkausstellung, Fräulein Mina?»
Die Art, wie er Fräulein Mina zu ihr sagte … Das klang ganz sanft, und es gefiel ihr. «Ja, ick war mit meener Freundin und iam Verlobten da. Die sind jetzt beede da oben.» Sie deutete auf das Funkturmrestaurant, ohne jedoch hoch zusehen.
Das tat jedoch Herr Weinhaus.
Mina plapperte unterdessen weiter darüber, wie langweilig die Messe gewesen sei mit all den Radios und Kopfhörern.
«Ich bin ja nicht so fürs Radio», erwiderte Weinhaus. «Ich bin ein Mann der Bücher.» Er klopfte auf seine Aktentasche und deutete auf ein kleines Köfferchen, das Mina zuvor entgangen war. «Im Grunde bin ich unterwegs zu einer Buchhandlung, der ich einige Neuerscheinungen vorlegen wollte. Doch nun hat mich der Hunger gepackt. Wäre es sehr aufdringlich von mir, wenn ich Sie zu einem kleinen Imbiss einladen würde?» Seine blauen Augen ruhten auf ihr.
Mina war nicht sicher, ob sich das eigentlich schickte. In Bückgen wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, seiner Bitte nachzukommen. Aber in Berlin? Da fiel es womöglich nicht weiter auf. Und Hunger hatte sie obendrein. Das hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch jetzt knurrte ihr Magen wie auf Kommando ziemlich undamenhaft. Sie lachte. «Solange wir den Imbiss nicht dort oben einnehmen müssen, soll es mir recht sein.» Dann hob sie scherzhaft drohend den Zeigefinger: «Aber nicht, dass Sie glauben, ich hätte so etwas schon einmal gemacht!»
Er fuhr mit ihr ins Café Möhring am Kurfürstendamm. Die imposanten Gebäude beeindruckten Mina stets auf Neue: der Gloria-Palast nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, das Nelson Theater, in dem Josephine Baker aufgetreten war und offenbar ganz Berlin mit dem Charleston-Virus angesteckt hatte, das Romanische Café, in dem sich Künstler, Schauspieler und Literaten trafen, sowie das Marmorhaus, ein weiterer Lichtspielpalast. Hier fühlte Mina sich lebendig.
Im Café saßen sie einander gegenüber, jeder an einem Fensterplatz. Der Kuchen war köstlich, und die Aussicht auf die vorbei flanierenden Damen und Herren im Sonntagsstaat war unterhaltsam.
«Se ham jesacht, Se sinn Vertreter für Bücher?»
«Bücher sind mein Leben. Und Sie? Lesen Sie auch?»
«Wahnsinnich jerne! Zu Hause hatt ick einje Bücher, die hab ick immer und immer wieder jelesen. Damals hatt ick aber ooch noch mehr Zeit», setzte sie hinzu.
«Was lesen Sie denn am liebsten?» Er sah sie forschend an. Mina errötete leicht. «Det sag ick lieber nich.»
«Oh, Sie müssen sich nicht zieren.» Weinhaus bückte sich und öffnete das Köfferchen. Anschließend tauchte er mit drei Büchern in der Hand über der Tischkante wieder auf.
Belladonna. Ein Liebesroman, las Mina, dann Der Weg durch die Nacht und Van Zantens glückliche Zeit. Ein Liebesroman von der Insel Pelli. Sie lächelte. «Sie ham mir erwischt.»
«Dachte ich es doch.»
«Ick mag Liebesromane. Janz besonders jern les ick Jane Austen. Stolz und Vorurteil hatte meene Mutter noch und hattet mir jejeben.»
«Jane Austen hat auch außergewöhnliche Dinge geschrieben – aber keine reinen Liebesromane. Also müssen Sie sich nicht mal schämen. Obwohl es da, streng genommen, ohnehin nichts zu Schämen gibt, Fräulein Mina.»
Da war es wieder: Fräulein Mina. Es klang schon irgendwie vertraut.
Als sie sich ansahen, lag eine lauernde Spannung zwischen ihnen, die jedoch abrupt von Weinhaus unterbrochen wurde, als er den Kellner um die Rechnung bat. «Das schenke ich Ihnen», sagte Weinhaus, als der Kellner wieder gegangen war, und legte ein Buch vor Mina auf den Tisch. «Es ist soeben auf Deutsch erschienen und scheint sehr vielversprechend