Birgit Rentz

Federspuren


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ihrer luftigen Reise

      vom Woher zum Wohin

      Für einen Augenblick

      nehmen sie mich mit

      und ich vergesse

      mich zu sorgen

      Lebensspur

      

Er hatte alles falsch gemacht. Er hatte sein Leben vertan. Seit Tagen ließ ihn dieser Gedanke nicht zur Ruhe kommen.

      Schwerfällig erhob er sich aus dem Sessel und ging in die Küche. Am Haken neben dem Kühlschrank hing noch ihre Schürze. Seine Hand zitterte, als er den Stoff streichelte. Wie ein Schlag traf ihn die Trauer und er schluchzte laut auf. Weinend vergrub er sein Gesicht in der Schürze.

      Jeden Abend hatte sie die Schürze getragen. Jeden Abend, wenn sie gekocht hatte. Er sah ihre knotigen Hände, wie sie die Bänder der Schürze auf dem Rücken lösten. Schnelle, geübte Griffe, auch im Alter noch. Wenn sie die Schürze abgelegt hatte, war das Essen fertig gewesen. Dann hatte er die Zeitung zur Seite gelegt und sich aus seinem Sessel im Wohnzimmer erhoben. In dem Augenblick, in dem er sich an den Tisch gesetzt hatte, war sie mit der Schüssel in den Händen in das Esszimmer getreten. So war es gewesen, zweiundvierzig Jahre lang. Es kam ihm vor wie ein immerwährender Moment.

      Er wischte mit der Schürze sein nasses Gesicht ab, hängte sie sorgsam an den Haken und schlurfte zurück ins Wohnzimmer. Als er sich in den Sessel fallen ließ, ächzte er, die Hüfte schmerzte. Seine Frau hätte noch nicht sterben sollen, sie war selten krank gewesen, hatte nie geklagt. All die Jahre hatten sie Angst um sein Herz gehabt, sinnlose, vergeudete Angst. Drei Infarkte hatte er hinter sich, der erste hatte ihn aus einer Gerichtsverhandlung gerissen. Danach hatte er die schwierigen Fälle seinem Nachfolger überlassen und war abends früher nach Hause gekommen. Seitdem wusste er, dass sie die Schürze ablegte, sobald sie mit dem Kochen fertig war.

      Müde wischte er sich über die Augen. Seitdem sie tot war, schlief er schlecht. Sie hatte morgens neben ihm gelegen, auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, den Kopf zur Decke gerichtet, den Unterkiefer heruntergeklappt. Das eine Auge war halb geöffnet gewesen. Er hatte sofort gewusst, dass sie tot war. Ihre Atemzüge hatten ihn sein halbes Leben lang begleitet, zweiundvierzig Jahre, Nacht für Nacht.

      Das Schlimmste war die Stille. Sie saß in jeder Ecke, verfolgte ihn und kroch ihm bis in die Knochen. Verfluchte, verdammte Stille. Umständlich holte er ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.

      Sein Blick fiel dabei auf die Anrichte, auf der seine Frau die Familienfotos abgestellt hatte. Die Kinder meldeten sich nicht mehr. Nach der Beerdigung waren sie sofort gefahren. Wie auf der Flucht, vor ihm und seiner Einsamkeit. Sollte er sie anrufen? Und dann? Was sollte er ihnen sagen? Er hatte es ein paarmal versucht, aber das war nur Quälerei gewesen.

      Was erzählte man Menschen, die noch mitten im Leben standen? Er hatte die Ungeduld in ihren Stimmen gehört und gewusst, er stahl ihnen nur die Zeit.

      Damals war er genauso gewesen, als er noch die Kanzlei gehabt hatte. Alles war wichtig gewesen, jeder noch so kleine Fall. Warum hätte er sich um seine Familie kümmern sollen? Das hatte seine Frau getan. Damals hatte er geglaubt, es würde immer so sein, sie würde immer da sein, die Kinder sowieso. Bitter dachte er an die Jahre in der Kanzlei zurück. Er hatte geglaubt, er würde stolz auf diese Jahre sein. Auf das, was er geschaffen hatte. An die größten Fälle erinnerte er sich noch, die anderen waren ihm längst entfallen.

      Er war erstaunt gewesen, dass so viele Menschen zur Beerdigung gekommen waren. Die meisten kannte er nur vom Sehen. Früher war er froh gewesen, dass sie sich beschäftigte und ihn in Ruhe ließ. Damit hatte sie auch nicht aufgehört, als er nur noch zu Hause gewesen war. Es war nicht richtig gewesen, dass er sich aufgeregt hatte, wenn sie telefonierte oder wegging. Er wusste es, aber er hatte es nicht ändern können.

      Nun saß er hier und flennte wie ein alter Mann. Was sollte das? Er war ein alter Mann. Alt, verschlissen, einsam, zu nichts zu gebrauchen.

      Mit seinem Ärmel wischte er sich über die nassen Augen. Warum war sie gegangen? Sie hätte etwas sagen können. Oder hatte sie es nicht mehr mit ihm ausgehalten? In den ersten Tagen war er wütend auf sie gewesen, weil sie ihn allein gelassen hatte. Er hatte überhaupt nicht gewusst, was er tun sollte – die Küche, die Wäsche, das Haus, das war immer ihres gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, dass es auch anders kommen könnte. Dass er übrig bleiben würde.

      Müde schloss er die Augen. Er wollte nicht mehr. Nichts war ihm geblieben. Am meisten verbitterte ihn, dass er so viel Zeit in seine Arbeit gesteckt hatte. Wozu? Es interessierte keinen Menschen mehr.

      Er versuchte, auf sein Leben zurückzublicken. Seine Lebensspur, wo war sie? Kurz vor ihrem Tod hatte sie ihm ein Buch gegeben, es ging um Lebensspuren. So ein Blödsinn, hatte er zu ihr gesagt und das Buch auf dem Tisch liegen lassen. Nie hätte er gedacht, dass die Spuren seiner Frau so tief gewesen waren. Sie, die niemals gearbeitet hatte, die nur zu Hause gewesen war.

      Seine Spuren hatte die Zeit verweht. Er schüttelte den Kopf, der Gedanke kam ihm zum ersten Mal und lähmte ihn. Von ihm würde nichts bleiben, nur die Erinnerung an den Anwalt, der er längst nicht mehr war. Niemand kannte ihn und er kannte niemanden.

      Er hatte alles falsch gemacht. Sein Leben vertan. Den Rest seiner Zeit musste er noch absitzen. Er konnte nur hoffen, dass es nicht mehr lange dauern würde.

      Wieder schüttelte er den Kopf. Warten auf ein Ende. Das war alles, was ihm geblieben war.

      

Weißt du eigentlich, wie oft ich an dich denke? Ob ich will oder nicht, auf einmal bist du da. Ich muss nur etwas hören, sehen oder lesen, was mich an dich erinnert. Manchmal überfällt es mich geradezu und meine Gefühle geraten durcheinander. Dann spüre ich deine Nähe, drehe mich um, suche dich, suche deine Spur. Aber ich finde sie nicht, sie existiert nicht mehr. Nicht in diesem Leben.

      Als du deine Spur noch täglich erneuert hast, verlief sie geradeaus, zielgerichtet und war stark und ausgeprägt. Du wusstest, was du wolltest und hattest immer eine Erklärung für die Wahl deines Weges. Die Menschen, denen du begegnet bist, erinnern sich an dich als einen fairen, optimistischen, geduldigen und liebevollen Menschen. Ihre Augen leuchten, wenn sie von dir sprechen. Die Erinnerungen sind stark.

      Es gibt keine Lebensspur, die meiner so ähnlich ist wie deine. Dein Weg hat mich geprägt wie kein anderer. Warst du in meinen ersten Lebensjahren wie eine lenkende Hand, so gestaltete ich mein Dasein später nach deinem Vorbild.

      Wir teilten zahlreiche Vorlieben und genossen gemeinsam – still und voller Ehrfurcht – jedes erreichte Ziel.

      Den Blick zum Himmel gewandt stiegen wir auf Gipfel, uns lag die Welt zu Füßen und wir waren dem Schöpfer nah. Dein Wanderstab begleitete mich und verlieh mir die Liebe zur Natur. In diesen Momenten verliefen unsere Spuren parallel und dicht beieinander.

      Über den Wolken einen einzigen Schritt ins Leere zu wagen, den freien Fall zu erleben, um dann, von der stillsten Stille umgeben, sanft zur Erde zu schweben, war eines der größten Gefühle, die uns je verbanden.

      Deine Spur, so stark sie auch war, zeigte irgendwann auf ihr Ende. Der Tag, an dem du deinen Wanderstab abgeben würdest, war nah. Die Fäuste geballt, gegen das Unausweichliche kämpfend, gingst du deinen letzten Weg. Deine Spur endete trotz ständig neuer Hoffnungsschimmer abrupt mit einer Träne auf deiner Wange. In dieser Sekunde übernahm ich deinen Wanderstab und ging meinen Weg weiter. Und immer wieder sah ich deine Fußstapfen dicht bei mir.

      Und ich sehe sie heute noch. Wenn ich unter meinem – oder besser: deinem – Baum stehe, seinen inzwischen mächtigen Stamm umfasse und die Sonne durch sein kühlendes Blätterdach blinzeln sehe, dann bist du es, der mich anschaut.

      Wenn ich deinen lange in der