Birgit Rentz

Federspuren


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Stimme, die das Geschriebene vorträgt. Und ich vernehme Worte, die ich ganz genau so formuliert hätte, wie du es getan hast. Und schon sehe ich wieder deine Fußstapfen, in die ich noch immer trete, und deine Spur wird wieder sichtbar. Du gehst also auch heute immer neben mir und schaust mir dabei zu, wie ich mein Leben meistere.

      Deinen Wanderstab führe ich stets bei mir, und ich weiß auch schon, an wen ich ihn weitergebe, wenn meine Lebensspur einmal endet.

      Ich danke dir, dass du mich zu dem geformt hast, was ich geworden bin. Du warst der beste Vater, den ich mir vorstellen kann.

      Wasser

      

Haben Sie schon mal eine Katze Cola trinken sehen oder Ihren Lieblingskaktus mit Bier begossen?

      Schauen Sie nicht so ungläubig, ich meine diese Fragen durchaus ernst.

      Sie möchten sicher wissen, warum ich so etwas frage, wenn ich doch schon weiß, dass ich kein Ja von Ihnen hören werde.

      Ich habe nur eben über die Katze und den Kaktus nachgedacht – nicht zum ersten Mal übrigens. Fragen dieser Art stelle ich mir häufiger, und zwar immer dann, wenn ich so wie heute Morgen im Supermarkt stehe und die Wunschliste meiner Familie abarbeite: diverse Sixpacks Apfelschorle – null Komma fünf Liter, für die Schule –, zwei Kisten stilles Mineralwasser für den großen Durst, eine Kombikiste Cola – schmeckt ja so lecker! –, ein Pfund Kaffee und eine Dose kakaohaltiges Getränkepulver für den Frühstücksdurst. An der Kasse angekommen, verrät mein Blick in den Einkaufswagen, dass wieder einmal mehr als die Hälfte aller Einkäufe Getränke sind. Auch auf dem Bon, den mir die Kassiererin nach dem Bezahlen in die Hand drückt, ist der Posten für Flüssiges nicht gerade unbedeutend. Bis zu zweihundert Euro vertrinkt meine Familie im Monat. Und ich kaufe fast nur im Discounter ein. Wenn ich das auf ein Jahr hochrechne, könnten wir vier von dem für Flüssiges verwendeten Geld in der Nebensaison drei oder vier Wochen Urlaub in Dänemark machen …

      Ich darf einfach nicht rechnen, dabei wird mir ganz anders. Bin ich eigentlich verrückt, diese Wünsche, die mir meine Lieben auf meinen Einkaufszettel kritzeln, immer wieder zu erfüllen? Ich trinke doch auch die meiste Zeit des Tages nur Wasser – und zwar aus dem Wasserhahn, jawohl! Okay, dann und wann darf es auch ein Milchkaffee sein. Aber ansonsten: Kein Kistenschleppen und nur Pfennigbeträge, so trinke ich mich durchs Leben. Wäre das schön, wenn ich meine Familie mit dieser Gewohnheit anstecken könnte. Ich sage nur: Dänemark!

      Apropos Leben: Der Mensch muss trinken, weil er sonst nicht überlebt. Ist doch so, oder? Überall, wo wir hinhören, heißt es, wir sollen täglich acht Gläser Wasser trinken. Und alle nicken dazu. Ob Kaffee denn auch dazu zählt, wurde ich in meiner Eigenschaft als Ernährungsberaterin immer wieder gefragt. Schließlich besteht Kaffee zu fast hundert Prozent aus Wasser. Die paar unbedeutenden Kaffeepulveranteile machen den Kohl doch nicht fett. Nein, das nicht, aber sie machen das Wasser zu einem ungesunden Lebensmittel.

      Jetzt habe ich aber etwas gesagt: Lebensmittel. Drehen wir das doch mal um: Mittel zum Leben. Ohne Wasser kein Leben. Wasser erfüllt ein Grundbedürfnis des Körpers.

      Und was macht der Mensch aus diesem Bedürfnis? Er erfindet das Rad neu, kreiert zum Beispiel Wellness-Getränke. Doch steigern die das Wohlbefinden, wie der Name es vorgaukeln mag? Vielleicht das Wohlbefinden derer, die daran verdienen – einschließlich des Zahnarztes. Der Körper wird allerdings nicht das Gefühl haben, dass diese Art von Getränken sein Grundbedürfnis erfüllt. Ihm wird Zucker zugeführt, und das nicht zu knapp. Vielleicht auch noch Farbstoffe und andere dubiose Zutaten. Aber warum trinken wir so etwas? – Weil wir glauben wollen, dass es uns guttut? Wo „Wellness“ draufsteht, kann doch nichts Schlimmes drin sein.

       Wer braucht schon Wellness-Getränke?

      Der Mensch braut Bier und brennt Schnaps und macht sich selbst davon abhängig.

       Wer braucht schon Alkohol?

      Der Mensch röstet Kaffeebohnen, damit er den Tag ohne Durchhänger übersteht.

       Wer braucht schon Kaffee?

      Der Mensch erfindet die tollsten Erfrischungsgetränke in den originellsten Geschmacksrichtungen. Aus Wasser, Zucker, naturidentischen Aromastoffen und ein paar Gramm Früchten werden Fruchtsaftgetränke, die zu einem günstigen Preis zum Kauf verführen. Energydrinks, Iso- oder Gurana-Getränke, Alkopos – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

       Doch wer braucht das alles? Wer braucht gut sortierte Getränkemärkte?

      Ah, ich höre Protest.

      „Kaffee tut so gut!“

      „Ich brauche ein großes Glas Cola zum Essen.“

      „Milch ohne Kakaopulver schmeckt doch nicht.“

      „Ein Bier am Abend …“

      „Auf Reisen wirkt ein Energydrink Wunder!“

      „Wasser ist langweilig.“

      Wasser ist langweilig? Ist es das wirklich? Wenn ich die Argumente betrachte, dann trinken wir uns doch nur quer durch den Getränkemarkt, weil wir uns etwas gönnen wollen, weil es gut schmeckt, weil die anderen das auch tun, weil uns ganz einfach danach ist. Wir befriedigen damit aber nicht das Grundbedürfnis des Körpers, der uns im Gegenzug Gesundheit und Lebenskraft schenkt, nein, wir befriedigen den Durst unserer Seele – auch wenn es uns im Grunde gar nicht guttut.

      Und da sind wir wieder bei der Katze oder dem Kaktus. Diese Lebewesen sind mit dem gleichen Grundbedürfnis ausgestattet wie wir Menschen. Sie brauchen Wasser, um zu leben. Und sie geben diesem Bedürfnis nach. Menschen, die Pflanzen oder Tiere versorgen, tun das ganz automatisch, indem sie Wasser in einen Napf füllen oder in die Gießkanne. Niemand wird sich die Frage stellen: Geben wir Katerchen heute mal ein Schlückchen Kakao, ein Wellness-Wasser oder lieber ein kühles Hefeweizen? Völlig absurd, diese Gedanken. Stimmen Sie mir zu? Wir behandeln unsere Haustiere und unsere Zimmerpflanzen so, wie sie es verdienen. Wir geben ihnen, was sie brauchen. Das danken sie uns mit gesundem Wachstum und Zufriedenheit.

       Und was tun wir uns an?

      Lieber nicht so viel nachdenken, man könnte ins Grübeln kommen.

      Katze müsste man sein – oder Kaktus.

      

Ich bin lange nicht mehr hier gewesen. Langsam gleite ich mit einem Schwarm bunter, fast durchsichtiger Fische, die mich an Schmetterlinge erinnern, durch das Schiffswrack. Wir ziehen vorbei an den zellenartigen Kabinen, in denen früher Menschen geschlafen haben. Vielleicht haben sie auch an dem kleinen Tisch gelesen, sich auf den Pritschen geliebt oder ihre Kinder in den Schlaf gesungen.

      Die Eisengestelle der Pritschen ragen in den Raum, wie Skelette, die von einem früheren Leben zeugen. Es gab Zeiten, da habe ich mir jeden Tag eine andere Kabine vorgenommen, habe mich liegend an der Pritsche festgehalten, damit das Wasser mich nicht fortzieht, und mir ausgemalt, wer diese Kabine bewohnt haben könnte. Ich erschuf die Passagiere aus meiner Erinnerung, grub aus meinem Gedächtnis Personen aus, die ich irgendwo einmal gesehen hatte, zog ihnen Kleider an und ließ sie in meiner Vorstellung lebendig werden.

      Am liebsten mochte ich die Luxuskabinen, obwohl kaum noch etwas von ihrer Einrichtung übrig ist. Vermutlich waren sie mit Holzbetten eingerichtet, die längst verfault sind. Nur die Kronleuchter haben den Untergang überstanden, die wenigen noch verbliebenen trüben Glassteine schaukeln im Wasser, und an den mit Algen überzogenen Armen hat sich ein Schwamm breitgemacht. Es ist absurd, dass ausgerechnet diese Lüster, die ich früher als Ausgeburten des Luxus verteufelt hätte, mich an mein Menschsein erinnerten. Den Passagieren dieser Kabinen stellte ich eine teure Garderobe zusammen, manche bekamen sogar Bedienstete, die ich in den kleinen Zellenkabinen unterbrachte.

      Diese