»Rammgeschwindigkeit!« Dann verdoppelte er den Takt seiner Pauke. Gohtas rannte zum Katapult zurück. Gleich musste die fliehende Galeere in Reichweite sein. Tatsächlich näherte sich die Silberne Stute nun beträchtlich schneller. Das sah der feindliche Kapitän wohl mit Schrecken.
Er versuchte verzweifelt mit einem Manöver den Kurs so zu ändern, dass er aus der Reichweite der silbernen Stute blieb. Doch das war ein schwerer Fehler. Er kam vom Wind ab und verlor sofort an Fahrt. Gohtas bemerkte es mit Freuden. Sein Befehl war auf dem ganzen Schiff zu hören. »Feuer frei! Schießt ihnen den Mast weg!« Der Wurfarm des Katapultes schnellte in die Höhe und die schwere Steinkugel sauste im hohen Bogen zu ihrem Ziel. Doch sie verfehlte den Mast und schlug stattdessen im Mastkorb ein. Ein Bogenschütze wurde getroffen und fiel schreiend auf das Deck. Gohtas konnte es kaum fassen. »Sofort laden und feuern! Nehmt die Kettenkugeln! Wir müssen den Mast knicken, bevor sie wieder am Wind sind!« Wieder schnellte der Wurfarm hoch und die Kettenkugeln fanden ihr Ziel. Kurz unter der Rah des Segels zerschmetterten sie den Mast. Krachend schlug das Segel mit der schweren Rah auf das Deck. Jetzt hatte die feindliche Galeere kaum noch Fahrt und die Silberne Stute näherte sich ihr als erstes. Dem Kapitän der schwer beschädigten Galeere blieb keine Wahl. Er ließ am Heck eine weiße Fahne hissen und seine Mannschaft legte ihre Waffen nieder.
Lionos befahl dem Rudermeister, das Rudern einzustellen und die völlig erschöpften Soldaten ablösen zu lassen. Auf beiden Schiffen wurden die Ruder eingezogen und die Galeeren näherten sich nun langsam einander. Mit Wurfankern zogen die Soldaten sich an die fremde Galeere heran und legten Enterbrücken aus. Mit einem Jubelschrei stürmten sie auf das Deck des Gegners und nahmen die Mannschaft endgültig gefangen. Es waren ausschließlich obinarische Kaufleute und Matrosen. Gohtas und Lionos kamen an Bord des erbeuteten Schiffes und schauten sich die Mannschaft an. Neben dem Mast lagen zwei tote Matrosen. Sie waren von der Rah erschlagen worden.
Der Kapitän der Obinarer stellte sich nun vor. »Ich bin Byros, Kapitän dieser Handelsgaleere.« Der Admiral grinste seinen Kapitän an und rieb sich die Hände. Dann wandte er sich Byros zu.
»Euer Schiff gehört jetzt mit der gesamten Ladung meinem Herren, dem König von Avanura. Übergebt mir Eure Frachtbriefe und haltet Euch für eine Befragung bereit.« Gohtas hielt für einen Augenblick in seiner Rede inne und tat so, als ob er kurz angestrengt nachdächte. Er tippte sich an die Stirn. »Äh, wie soll ich es sagen? Wie kommt ihr Obinarer nur auf die unheimlich kluge Idee, einer ganzen Flotte davonsegeln zu wollen? Ihr könnt Euch doch an den fünf Fingern eurer rechten Hand abzählen, dass mindestens eine unserer Galeeren schneller ist als eure eigene.«
Er ließ den Kapitän der Obinarer mit seiner Antwort stehen und schaute sich die Galeere an. Die Rudersklaven wurden auf Deck geführt und mit Wasser versorgt. Sie waren alle in einem erbärmlichen Zustand. Um ihre Hüften baumelten die Reste einstiger Hosen. Sonst hatten sie nichts weiter am Leib. Die Haare und die Bärte waren lang und verfilzt. Auf ihren Rücken sah man deutlich die frischen Striemen, die von den Peitschen ihrer Aufseher stammten. Meist waren sie aufgeplatzt und bluteten. An den nackten Füßen hatten sie Fesseln mit Eisenringen. Kurz vor einem Kampf zogen die Aufseher gewöhnlich Ketten durch diese Ringe. So waren sie an ihre Ruderbank gefesselt und konnten bei einem Untergang ihrem Schicksal nicht entkommen. Einige husteten und rangen noch immer nach Luft. Sie alle waren vom harten Rudern völlig erschöpft.
Lionos sah durch die Luke, die unter Deck zu den Ruderbänken führte. Dann sah er Gohtas an. »Die Hälfte der Rudermannschaft ist noch hier unten. Sie sind zu schwach, um auf Deck zu kommen.« Gohtas schaute selbst hinein. Der Leibarzt des Admirals war mit seinen Gehilfen gerade nach unten gegangen. Ein unbeschreiblicher Gestank schlug Gohtas entgegen. Doch noch viel unbeschreiblicher war das, was er sah. Einige Männer waren so blutig geschlagen, dass selbst dem härtesten Mann bei ihrem Anblick die Tränen in die Augen schossen. Vor Wut schnaubend drehte sich Gohtas um und zog sein Schwert. Er stürzte auf dem Kapitän der Obinarer zu und wollte ihn auf der Stelle niedermetzeln. Lionos und einige beherzte Soldaten hatten alle Mühe, ihren Admiral von seinem Vorhaben abzuhalten.
Dabei brüllte Lionos den Admiral an: »Nein mein Herr, das dürft Ihr nicht! Wir werden ihn lebend nach Krell bringen lassen! Dort soll man ihn mit seiner Mannschaft für ihre Verbrechen bestrafen!« Gohtas steckte sein Schwert weg und drehte sich um. Er sah sich die Rudersklaven mit ihren ausgemergelten Körpern an. Hilflos versuchten sie, sich die Sachen anzuziehen, die sie von der Mannschaft der Silbernen Stute bekamen.
Während die einen ihre Freiheit wieder bekamen, wurden die anderen in Ketten gelegt und auf einem Gefangenenschiff untergebracht. Um nicht den Kontakt untereinander zu verlieren, mussten jetzt alle Galeeren der Flotte ankern. Die erbeutete Galeere wurde in Windeseile wieder in Stand gesetzt, mit einer Mannschaft versehen, und schon zum Mittag war die Flotte wieder unterwegs.
Gohtas starrte beim Essen geistesabwesend ins Leere. Lionos ahnte, was ihn beschäftigte.
»Herr, Ihr seid mit Euren Gedanken abwesend. Ich befürchte, dass Euch die längst vergangenen Tage Eurer Gefangenschaft bei den Piraten wieder in den Sinn gekommen sind. Das war in Eurer Jugend und ist schon seit einer Ewigkeit vorbei. Immer wieder daran zu denken, ist falsch. Ihr müsst nach vorn sehen, mein Admiral.«
Gohtas sah Lionos lächelnd an. »Ihr braucht keine Angst zu haben, Kapitän. Ich habe tatsächlich noch an etwas anderes gedacht. Ihr erinnert Euch bestimmt, dass ich Euch einmal von der alten Piratenfestung Zandum erzählt habe. Von dort konnte ich nur mit Hilfe eines Geheimganges entkommen. Wenige Monate nach meiner Flucht haben dann die Obinarer die Festung belagert. Sie kannten den Gang nicht. Deshalb brauchten sie drei Monate, um die Festung zu erobern. Die Piraten hatten die Obinarer mehrfach an den Rand einer Niederlage getrieben. Mit wenigen hundert Mann konnten sie den Gegner damals immer wieder abwehren. Wenn den Piraten nicht die Lebensmittel ausgegangen wären, dann würden sie die Festung wohl noch heute halten. Schaut Ihr vom Meer aus zur Festung, so seht Ihr gleich den Wald, der die Festung von der Landseite her umgibt. Ein Stück westlich ist deutlich eine Felsengruppe zu sehen. Zwischen diesen Felsen findet man bestimmt noch heute den Eingang. Selbst wenn er an einigen Stellen verschüttet ist, so kann man ihn mit Sicherheit schnell wieder freilegen und sich in die Festung schleichen. Jetzt hört also meinen Plan.« Gohtas war nun wieder voll in seinem Element. Er zog Lionos ein wenig beiseite und erklärte weiter.
»Immer vorausgesetzt, die Obinarer haben tatsächlich noch ihre Flotte im Hafen vor der Festung, so müssen wir sie angreifen. Ich hoffe, wir können sie überraschen. Das würde uns einen Vorteil bringen und sie in die Festung treiben. Dort sitzen sie dann in der Falle. Wir tun so, als würden wir sie belagern. In Wahrheit aber kommen wir durch den Gang und vernichten sie.« Gohtas machte eine verschwörerische Miene. »Ich verwette eine neue Galeere gegen einen alten Hut, diese Obinarer kennen den Gang nicht. Deshalb vermute ich, dass diese Narren auch keine Ahnung haben, dass sich in einem der Gewölbe noch ein alter Schatz befindet. Ich habe ihn selbst gesehen. Haben wir die Obinarer erst einmal besiegt, so wird der uns auch in die Hände fallen. Der König wird mit uns zufrieden sein.«
Vom Gesicht des Kapitäns konnte Gohtas eine gewisse Ungläubigkeit ablesen. Darum fügte er schnell hinzu: »Ich weiß, was Ihr jetzt denkt. Wenn ich mich so reden höre, würde ich mir beinah selbst nicht glauben. Doch ich versichere Euch, ich habe diesen Schatz gesehen. Es ist eine Kiste mit kostbaren Waffen, altem Schmuck und Goldmünzen.«
Lionos nickte kurz, dann kam ihm eine Idee. »Na gut, wenn die Obinarer die Kiste noch nicht gefunden haben, dann finden wir sie eben. Aber das wichtigste ist die Festung und der Hafen davor. Wir haben hier auch eine gute Karte.« Lionos kramte in einem Haufen Karten auf dem Tisch herum und zog die Gesuchte hervor.
Stundenlang betrachteten die beiden die Karte und grübelten über ihren Angriffsplänen. Als Gohtas endlich gähnte und zum Fenster sah, bemerkten die beiden, dass der Abend angebrochen war. Lionos legte die Schiffsmodelle beiseite, mit denen er eben noch eine Taktik geübt hatte, und sah zu Gohtas. Der hatte sich ans Fenster gestellt und blickte hinaus. Als er die Wellen des Meeres betrachtete, sagte er mit leiser Stimme, so als ob er niemanden wecken wollte: »Wir können noch so viel über unsere Taktik und den Feind streiten, die Zukunft hat trotzdem ihre eigenen Pläne. Wir sind gut vorbereitet und müssen nun das Beste daraus machen.«
Lionos