auf und nieder bewegte, wenn man darauf herumsprang. Zu Hause heizte man mit dem getrockneten Torf den Kachelofen. Selten verwendeten die Bewohner von Klotainen Holz. Das Dorf besaß eigens eine Maschine zum Torfstechen. Der Heizwert von Torf war besser als der von Holz. Man ließ ihn trocknen bis zum Herbst, dann wurde er mit dem Pferdewagen nach Hause gebracht und eingelagert. Auch im Elternhaus der Steinkys türmte sich hinter der Speichertreppe das wertvolle Brennmaterial.
Klotainen, das waren ungefähr 240 Einwohner, verteilt in 51 Haushaltungen. Jeder kannte jeden. Das Dorf gehörte zum Kirchspiel Siegfriedswalde. Man war katholisch im Ermland, im Gegensatz zum Rest Ostpreußens, wo die Protestanten lauerten. Siegfriedswalde lag etwa fünf Kilometer in Richtung Seeburg entfernt. Dort gab es ein kleines Kirchlein, in dem die Steinkys mit ihren Kindern jeden Sonntag dem Pfarrer und dem lieben Gott ihre Aufwartung machten. Die letzte Eiszeit hat das Gesicht des Landstriches geprägt. Klotainen bestand aus einem gleichnamigen Rittergut, zwei Gutshöfen, landwirtschaftlichen Betrieben, einer Schule und einer Gaststätte, die von der korpulenten und überaus geschäftstüchtigen Miggegret betrieben wurde. Das Leben in Kotainen vollzog sich seit jeher im Rhythmus zwischen Aussaat und Ernte. Die Bodenverhältnisse waren gut, somit auch die Ernteerträge. Angebaut wurden Roggen, Weizen und Gerste. Auch Hafer, Erbsen und Flachs reiften vortrefflich. Ebenso Kartoffeln, Rüben, Wruken, Weißkohl und andere Getreide- und Gemüsearten. Es gab zudem Weidegärten für Pferde und Rinder. Ein Fuhrunternehmen brachte von mehreren Bauernhöfen aus Klotainen, Tollnigk und Siegfriedswalde die Milch zur Molkerei nach Seeburg. Auf dem Rückweg wurden die leeren, auf Bestellung mit Magermilch gefüllten Kannen zurückgebracht. In Sachen Fleisch, Brot, Gemüse sowie Milch und Butter waren fast alle im Ort Selbstversorger.
Karlchen freute sich schon auf den Moment, in dem er seinem Bruder von der Neuigkeit berichten würde. Er gefiel sich in dieser Rolle. Von Hermes, dem Götterboten, hatte Lehrer Pingel in der Schule erzählt. Und wie dieser Hermes würde er jetzt in Windeseile die gute Botschaft weitertragen.
Er ist nach Hause gekommen. Er ist wieder zu Hause. Bei dem Gedanken hing ein Lächeln auf Karlchens Lippen, das auch nicht nur für eine Sekunde lang weichen wollte. Es waren nur noch ein paar Meter, die Beine mit einer Last von Tonnen beschwert, bog er um die kleine Bergkuppe. Schon aus der Ferne konnte er Albert zwischen den Männern ausmachen.
»Albert …!«, rief er, so laut er konnte. Ja, er schrie es fast heraus. »Albert …! Albert…!«
Albert hatte Karlchen noch gar nicht so recht wahrgenommen, als ihn der alte Block, seines Zeichens Vorarbeiter und eine Autorität auf dem Rittergut in Klotainen, stupste und in die Richtung zeigte, aus der sich der kleine ostpreußische Götterbote näherte.
»Albert …!«
»Ja, was ist denn?«, fragte dieser halb neugierig, halb besorgt.
»Vater ist …«
Noch war Karlchen völlig außer Atem. Er blieb stehen und schnaufte auf der Stelle wie ein altes Königsberger Dampfross.
»Vater? Was ist denn mit Vater?«, hakte Albert ungeduldig nach.
»Unser Vater… Unser Vater, er ist nach Hause gekommen.«
»Was!? Vater ist zu Hause!?«
Albert durchfuhr es, als habe ihn der Blitz getroffen. Vater ist zu Hause? Mehr als eineinhalb Jahre waren es her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. In der Küche hatten sie beieinander gestanden, als er sich verabschiedete. Die Kinder weinten. Auch Albert konnte die Tränen nicht verbergen. Sie ahnten, was kommen könnte. Heilsberg war eine Garnisonstadt, und die Kavallerie hielt von Zeit zu Zeit Übungen am Simsersee ab. Dabei kam es zu einem schrecklichen Unglück. Zwei Soldaten ertranken. Sie waren mit ihren Pferden in einen Strudel geraten. Albert hatte sonntags beim Kirchgang stets dafür gebetet, dass es seinem Vater in der Fremde nicht ebenso ergehen würde. Der liebe Gott, so dachte er einen kurzen Moment bei sich, er hat mich erhört …
Albert blickte fragend zum Vorarbeiter hinüber. Block nickte.
»Nu lauf schon, Jungchen. Dein Torf hat auch noch Zejt bis morgen.«
Albert fieberte. Er schaute Karlchen an und lächelte.
»Wann ist er gekommen? Geht es ihm gut? Ist er verletzt?«
»Langsam … langsam.. Ne alte Kuh ist keijn Ejlzug nuscht«, keuchte Karlchen.
Nachdem der kleine Götterbote wieder besser Luft bekam, machten sich die Steinky-Brüder auf den Weg nach Klotainen. Unterwegs erzählte Karlchen, was sich in den vorangegangenen Stunden zu Hause alles zugetragen hatte.
»Er kam mit dem Zug«, berichtete Karl, wobei eine gewisse Aufgeregtheit nicht zu verbergen war. »Das letzte Stück ist er zu Fuß gelaufen. Einen langen Schnurrbart hat er sich wachsen lassen – unser Vater. Lieschen hatte Angst vor ihm, als sie ihn in der Küche stehen sah und versteckte sich hinter der Mutter. Und er hat auch etwas mitgebracht aus dem Flandernland.«
»Was denn?«, fragte Albert neugierig.
»Sag ich nuscht. Du wirst schon sehen, was es ist«, grinste sein Bruder verschmitzt.
Nachdem Karlchen wieder zu Kräften gekommen war, liefen sie das letzte Stück. Vorbei an den Feldern, an der Schule, am Hof der Familie Paula, bis sie schließlich das Elternhaus erreicht hatten. Doch was war das? Aus dem Inneren des Hauses erklang Musik, eine Musik in einer Sprache, die Albert zuvor noch nie gehört hatte.
Als er die Küche betrat, fiel sein Blick als erstes auf den uniformierten Mann am Tischende mit den Obergefreitenabzeichen und dem langen, gezwirbelten Bart, dann auf dieses seltsame Gerät mit dem riesengroßen Trichter, aus dem unentwegt ein seltsamer Gesang erklang.
»Das ist ein Grammophon«, erklärte Karlchen, der offensichtlich schon gänzlich im Bilde war, was es mit dieser technischen Errungenschaft so auf sich hatte. »Und die, die da singt, das ist eine französische Sängerin. Sie heißt Rina Ketty. Ja, ich weiß, der Name klingt nicht eben Französisch, aber sie singt halt recht schön, dass sie auf jemanden wartet, der weit weg ist und so was.«
Der Vater fuhr ihm ins Wort.
»Na, mein Junge, wie geht es dir? Groß biste geworden. Haste der Mutter ooch immer brav geholfen?«
Albert schaute zu seinem Vater, lächelte und nickte.
»Ja, hab ich.«
Tief im Innersten spürte er diese große Wiedersehensfreude, als der Vater ihn in die Arme schloss.
»Schön, dass du wieder bei uns daheim bist! Wie war’s im Krieg, Vatter?«
»Ach mejn Junge, vergiss den Kriech. Weijst du, mit jedem Kriech iss das so ne Sache. Wer den ersten Schuss getan hätt, das kannst du später in Geschichtsbüchern nachlesen. Wer den letzten Schuss macht, das weijss man nuscht. Aber ich bin jetzt für ne ganze Weile zu Hause, und da wollen wir nuscht über Krieg oder so was reden. Sach man, habt ihr schon orntlich von dem Torf nach Hause gebracht?«
»Ja, haben wir. Unter der Speichertreppe liegt schon jede Menge davon. Der Winter kann man ruhig kommen.«
Willi kramte beiläufig in seiner Jackentasche. Offenbar suchte er etwas, was sich kürzlich noch dort befunden hatte, was aber abhanden gekommen sein musste. Dann wandte er sich wieder seinem ältesten Sohn zu.
»Albert, tust du mir einen Gefallen?«
»Ja klar! Welchen?«
»Ich würde heute Abend gerne eine von diesen Salem-Zigaretten rauchen. Würdest du mir eine Schachtel bei der Miggegret besorgen?«
»Ja klar, mach ich.«
Auch Karlchen war die Bitte nicht entgangen.
»Ich komm mit! Kann ich mit?«, fragte er den Vater. Der nickte.
Albert und Karlchen verschwanden in Windeseile durch die Tür. Im Haus schräg gegenüber hatte der Nachwuchs der puckligen Schibulski-Nachbarschaft so wie allabendlich bereits Position bezogen.
Die Schibulskis bewohnten ein baufälliges Häuschen mit einer Waschküche, einem