Michael W. Caden

Das Mädchen mit den Schlittschuhen


Скачать книгу

Klapperstorch mit einem großen Reichtum an Kindern bestückt. Er legte ihnen in einer gewissen Regelmäßigkeit kleine Heemskes oder Grumpels ins Nest, aber es waren auch zwei, drei lange Gerippe darunter. Insgesamt vierzehn Mal hatte Meister Adebar in aller Eile die Kajup der Schibulskis angesteuert, um den Nachwuchs im Tiefflug abzuwerfen. Tagtäglich saßen sie wie die Orgelpfeifen auf der Treppe und beäugten die Nachbarschaft. Und fast jedes Jahr gesellte sich, sobald er auch nur ein paar Schritte aufrecht gehen konnte, ein weiterer Schibulski hinzu.

      Die besten Plätze waren ganz oben und stets reserviert. Dort saßen die Ältesten, die Kleinsten und Jüngsten mussten unten mit dem ersten Treppenabsatz vorlieb nehmen. Die Schibulskis, sie mussten irgendwie mit Marx und Engels verwandt sein, fand Albert. Für sie gehörte alles allen. Und manchmal, da fanden sie sogar Sachen, die andere noch gar nicht verloren hatten. Für die Schibulskis hatte auf der Treppe gerade das allabendliche Unterhaltungsprogramm begonnen, und das hieß heute: Vater Steinky ist heimgekehrt.

      »Is Euer Vadder heijm gekommen?«, rief eine aus der Mitte.

      Albert kannte die Stimme. Sie gehörte der frommen Helene, die sich stets durch eine große Neugierde auszeichnete. Sie war jedoch alles andere als fromm. In der Kirche ließ sie sich nur selten blicken.

      In der Figur ähnelte die Helene sehr ihrem Vater, im Gesicht aber kam sie nach der Mama. Als sie noch klein war, lief sie fast immer mit einem benuschelten Gesicht herum. Später, als sie anfing sich zu schminken, sah sie auch nicht besser aus, fand Albert. Ihr Haar war verruschelt, die Fingernägel abgegnabbelt. Und sie verfügte über ein loses Mundwerk.

      Reger Betrieb herrschte vor ihrem Fenster, wenn die Helene ihren Badetag hatte und im Evakostüm in ihrer Zinkwanne stand. Das Schauspiel fand in aller Regel sonntags kurz vor dem Kirchgang statt. Die halbe männliche Dorfjugend von Klotainen versammelte sich dann, das Gebetbuch unterm Arm, vor dem Haus der Schibulskis, und während andere das Licht einschalteten, um besser sehen zu können, tat die fromme Helene dies, um besser gesehen zu werden. Das war eben so ihre Art. Und den jungen Burschen im Ort gefiel’s. Ja, sie waren geradewegs begeistert und ließen an den Sonntagen keine Vorführung aus.

      Wochentags, wenn die Helene aus der Schule kam, zog sie auf ihren dünnen, ausgetretenen Stöckelschuhen, die sie von ihrer Tante Walburga geschenkt bekommen hatte, durchs Dorf. Sie quetschte sich in ein froschgrünes, enges, seidenschimmerndes Kleid, damit die Burschen auch ja ihre werdenden Rundungen bemerkten. Der Busen, und davon hatte sie genug, fiel ihr fast aus der Bluse, was wohl daran lag, dass sie nie einen Büstenhalter trug. Sie wusste nicht, ob sie auf den Händen oder auf den Füßen gehen sollte, und wackelte durchs Dorf wie eine Katze auf Nussschalen. »Zum in der Küche helfen, dafür taugt sie nicht allzu viel«, erzählte ihre Mutter einmal im Ort.

      »Ja«, meinte Albert im Vorbeilaufen und grinste. »Er ist heimgekommen. Und wir passen auch auf, dass er uns so schnell nuscht wegkommt.«

      Albert und Karlchen nahmen die Abkürzung am Teich entlang über die Wiese. Nach ein paar Minuten hatten sie den kleinen Krämerladen erreicht.

      Die Miggegret führte eine Gastwirtschaft und einen Kolonialwarenladen an der Chaussee zwischen Seeburg und Heilsberg. Schon manch einer aus dem Dorf hatte in ihrer Kneipe das liebe Geld beim Kartenspiel verschettert.

      In Miggegrets kleinem Kolonialwarenladen gab es fast alles zu kaufen. Albert liebte den Geruch von Petroleum und Salzhering. Es roch herrlich nach Sauerkohl, Leder- und Holzwaren.

      Eigentlich hieß sie Margarete Migge. Karlchen glaubte indes, dass ihr Name etwas damit zu hatte, dass in der Schänke regelmäßig auch ein paar Fliegen ein und aus gingen. Niemand in der Welt hätte ihn vom Gegenteil überzeugen können. Die Miggegret war ein korpulentes Weib, musste sie als Wirtsfrau wohl auch sein, denn häufig hatte sie es mit den raubeinigsten Gesellen aus Klotainen und Umgebung zu tun. Etepetete zu sein, das war im Wirtshaus wahrlich fehl am Platz.

      »Na ihr beeden, wat führt euch denn zu mir?«, fragte die Grete und stützte sich mit verschränkten Armen auf dem Tresen auf. Ihr Blick fiel auf Alberts geschlossene Hand, in der er das Geld für die Zigaretten hielt.

      »Unser Vadder ist aus dem Kriech nach Hause gekommen, und wir sollen ihm eine Schachtel Salem kaufen«, antwortete Karlchen.

      »Dat is aber ejne schejne Nachricht?«

      Die Gret blickte zu einem Mann, der in einer Ecke saß und an einem Tulpchen Bier schlürfte. Die Nase, vom Alkohol bereits in leuchtender Weise gezeichnet, hing dabei mehr im Glas als darüber.

      »Ja, ja, Unkraut vergeht nuscht«, brummelte der Mann.

      Es war der alte Kalludrigkeit, der dort im Halbdunkel an einem runden Tisch saß. Er hatte die beiden Burschen schon seit dem Augenblick beäugt, als diese den Laden betraten.

      »Passt man auf, Euer Vadder, der macht beim Milidär man so richtig eine Karriere. So wie der junge Piel«, spottete er.

      Piel war das, was man in Ostpreußen landläufig als doller Heiland bezeichnete, ein Draufgänger. Er imponierte Albert. Auch Karlchen bekam glänzende Augen, wenn die Rede auf diesen Piel kam. Piel war auf einem abgelegenen Rittergut unweit von Klotainen geboren worden. Er hatte das Löbenichtsche Realgymnasium in Königsberg, wo er 1934 sein Abitur machte, besucht. Freiwillig meldete er sich zur Wehrmacht und wurde als Fahnenjunker 1934 einberufen. Im Polenfeldzug zeichnete man ihn als Führer eines Panzerspähtrupps mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse aus, und während des Frankreichfeldzuges setzte er noch eins drauf und erhielt das Eiserne Kreuz erster Klasse verliehen.

      Kalludrigkeit dagegen war aus einem ganz anderen, eher morschen Holz geschnitzt. Er war ein Speilzahn, ein Spötter und alter Krauter, einer, der an allem und an jedem etwas zu meckern hatte. Für ihn waren alle Leute im Dorf Pracher oder Posauken. Wenn es darum ging, Schimpfwörter zu kreieren, war Kalludrigkeit äußerst erfinderisch, und während andere bei der Arbeit die Hemdsärmel hochkrempelten, wickelte er sie, falls er sie denn jemals hoch getragen haben sollte, schnell runter und verschwand. Er hatte weiter nichts zu tun, als den ganzen Tag überall rumzuschwadronieren. Alles, was irgendwo rumlag, musste er mit seinen großen, globigen Fingern begrabbeln. Und wenn er sich einmal nicht über irgendetwas oder irgendjemanden ausließ und meckerte, tat er so, als koste jedes Wort einen Taler. Dann saß er meistens bei der Miggegret an diesem Tisch in der Ecke, verlötete sich einen, starrte dabei in sein fast immer gefülltes Bierglas und wurde einfach nur älter.

      »Ach Jungs, schert euch nuscht darum, was der alte Gniefke sagt«, meinte die Miggegret und schob die Zigaretten über die Ladentheke.

      »Hier, für eueren Vadder und sagt einen schönen Gruß.«

      »Machen wir.«

      Albert legte das Geld auf den Tresen und nahm die Zigaretten. Dann verließ er mit seinem Bruder den Laden.

      Als sie wieder zurück im Haus waren, hatte der Vater seine Uniform ausgezogen und sich seine alten Klamotten aus dem Schrank geholt.

      »Er könnte auch mal wieder ein Stückchen zulegen, der Vadder«, meinte Mutter Elisabeth. »Aber dafür werde ich schon sorgen.«

      Sie holte Grützwurst und geräucherten Schinken aus der Räucherkammer vom Dachboden. Ihrem Willi sollte es heute an nichts fehlen!

      An diesem Abend saßen sie lange beisammen. Willi erzählte den Kindern von der Nordsee und dem Leben im fernen Belgien und Frankreich. Gemeinsam saßen sie am Kamin, so als würde es den Krieg nicht geben. Vielleicht, so dachte Albert bei sich, ginge er ja zwischenzeitlich zu Ende und Vater könnte ganz zu Hause in Klotainen bleiben. Mit diesem Gedanken ging er zu Bett, während in der Wohnstube noch leise das Grammphon spielte.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную