Michael W. Caden

Das Mädchen mit den Schlittschuhen


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derart Angst davor, dass sie am helllichten Tag im Nachtgewand schreiend durch die Straße des Wohnviertels laufen und der gesamten Nachbarschaft zu einer völlig unverhofften und kurzweiligen Unterhaltung verhelfen können.

      Paulchen und Willi hatten das Spektakel vom Küchenfenster aus beobachtet.

      »Ich mach mir vor Lachen fast in die Hose«, triumphierte Paulchen.

      »Komm!«, drängte Willi.

      »Wo willst du hin?«, fragte Paulchen.

      »Noch mal ins Schlafzimmer. Ich brauche eine Uhr.«

      »Eine Uhr, was willst du denn damit?«

      »Die brauche ich eben!«, herrschte Willi ihn an.

      Die beiden rannten ins Schlafzimmer. Willi griff in die Schublade neben dem Bett seines Vaters und fischte eine Taschenuhr heraus.

      »Komm weiter!«

      »Was ist?«, wollte Paulchen wissen.

      »Ich muss noch in die Küche. Ich brauche noch etwas Proviant.«

      »Proviant? Wofür brauchst du den denn?«

      »Erzähl ich dir später. Komm!«, knurrte Willi.

      Sie rannten in die Küche.

      Willi griff nach dem verbliebenen Rest der Schokoladentorte und packte sie in einen Karton. Er griff nach allem, was sich ihm an Essbarem bot: Äpfel, Brot, Kartoffeln.

      Dann rannten sie auf die Straße. Paulchen platzte fast vor Neugierde.

      »Jetzt sag mir doch mal um Himmelswillen, was hast du denn nun vor?«

      »Was ich vorhabe? Ich haue ab, ich wandere aus!«

      »Du willst auswandern! Ja um Gotteswillen, wohin denn?«, fragte Paulchen fassungslos.

      »Nach dem Amerika, ich wandere aus nach dem Amerika!«

      »Wo willst du hin! Nach dem Amerika?«

      Willi wusste, dass er – was Stiefmutter Kaminski betraf – den Bogen überspannt hatte. Bevor sich alles noch zum Schlimmeren wenden könnte, machte er sich lieber aus dem Staub. Amerika lag zwar weit irgendwo hinter Danzig, das war ihm bekannt, mit einem Boot aber, so dachte er bei sich, würde der Kontinent schon schnell in Sichtweite rücken. Und so groß könne ein Großer Teich nun auch nicht sein! Schließlich war der Teich in Kaufmann Ullmanns Garten auch groß, doch den hätte man locker mit einem tüchtigen Boot überqueren können.

      »Was willst du denn in Amerika, Willi?«

      »Ein besseres Leben führen. Dort ist es allemal besser als hier in Elbing mit dem Drachen unter einem Dach!«

      Paulchen blickte ihn mit großen Augen fragend an.

      »Und wie willst du dahin kommen?«

      »Mit einem Boot natürlich.«

      »Und wo willst du das Boot herbekommen?«

      »Das bauen wir uns zusammen. Unten am Elbing-Fluss, da liegen schon die Bretter und was wir sonst noch so brauchen. Kommst du mit, Paul, hilfst du mir das Boot zu bauen?«

      »Klar helfe ich dir«, pflichtete Paulchen ihm bei und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern. »Und wenn es da in diesem Amerika besser ist als hier in Elbing, dann komme ich eben mit.«

      Nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichten sie das Ufer des Flusses. In einem dichten Gebüsch hatte Willi schon seit Wochen alles für den Schiffsbau gebunkert. Alles war bis ins Detail durchgeplant. Sogar an die Schiffstaufe hatte er gedacht. Statt Sekt gab’s jedoch ein kühles Blondes von der Brauerei Englisch Brunnen.

      »Mensch Willi, wo haste denn das alles her?«, wunderte sich Paulchen.

      »Organisiert!«, antwortete Willi nicht ganz ohne Stolz.

      Das Holz stammte von Kisten der Zigarrenfabrik Loeser & Wolff. Durch ein Loch im Zaun des Alteisenhändlers Schlemper hatte er sich mit Nägeln versorgt. Hammer und Fuchsschwanz waren aus Vaters Werkstatt geborgt. Und das Wichtigste stammte ebenfalls aus dem Besitz von Wilhelm Steinky Senior: seine Taschenuhr. Sie sollte dem Navigator, und das war kein geringerer als Willi selbst, als Kompass dienen. Die Taschenuhr würde ihm, mit Hilfe der Sterne, geradewegs den Weg nach Amerika weisen. Sie war schier unerlässlich für die riskante Überfahrt über den Großen Teich. Deshalb hatte er sie aus der Nachttischschublade seines Vaters gefischt.

      Die Schiffswerft nahm unter Hochbetrieb ihre Arbeit auf. Willi und Paulchen werkelten bis in die Dämmerung hinein. Dann ließen sie das Boot zu Wasser und stachen in See. Doch schon nach kurzer Fahrt leistete sich der Navigator einen schicksalshaften Fehler, den auch Vater Steinkys Taschenuhr nicht verhindern konnte. Willi hatte das Boot zu hart Backbord genommen, woraufhin das Ruder zerbrach. Das stolze Schiff schlug an einen Pfeiler der großen Eisenbahnbrücke und strandete unterhalb der Schleuse. Im Winter war nicht weit davon entfernt ein Junge beim Schlittschuhlaufen ertrunken. Obwohl man das Eis überall aufgehackt hatte, wurde der Leichnam lange Zeit nicht gefunden. Ein solch ähnlich tragisches Ende sollte Willi und Paulchen gottlob erspart bleiben. Beide konnten sich mit einem beherzten Sprung ans nahe Ufer retten.

      Immer wieder kehrten sie in den nächsten Tagen zum Schiffswrack zurück. Tapfer schaukelte es, umkreist von alten Dosen und etwas Treibholz, hin nun her, bis es eines Tages schließlich gänzlich verschwunden war. »Vielleicht«, so meinte Willi, und da war er sich beinahe sicher, »vielleicht ist es ja jetzt auf dem Weg nach dem Amerika!«

       Willi im Land der Ordensritter

      Als Willi an diesem Abend nach Hause kam, warteten der Drache und sein Vater schon ungeduldig an der Haustür. Sie hatten sich dort postiert, nicht etwa, weil sie den Sprössling vermisst und sich Sorgen gemacht hätten, sondern vielmehr, weil er jetzt seiner gerechten Strafe zugeführt werden sollte.

      »Willem, der Junge hat dich deine Taschenuhr gestohlen«, keifte die alte Kaminski in schlechtem Deutsch und stupste den Vater mit einem Ellenbogen in die Seite. Ihre abhanden gekommene Schokoladentorte ließ sie natürlich auch nicht unerwähnt, während das Gustäffchen, dieser kleine, gierige Nimmersatt, grinsend in der Ecke stand und mit einem Ausdruck von Hochgenuss die Reste einer Brotstulle von einer Backentasche in die andere schob.

      »Wo ist meine Uhr?«, brummte Vater Steinky.

      Der Tonfall verhieß nichts Gutes.

      Willi zuckte mit den Schultern. Er konnte sie seinem Vater beim besten Willen nicht rückübereignen. Schließlich war sie bei der Überfahrt nach Amerika beim Sprung an Land aus der Hosentasche gefallen und im Elbing-Fluss versunken. Überfahrt? Amerika? Was faselte der Sohn da? Diese Erklärung wollte der Vater keinesfalls akzeptieren. Und so tat er das, was er bislang nur recht selten getan hatte: Er zog den Hosengürtel aus und versohlte das Sohnemännchen.

      Am nächsten Morgen nahm Willi seinen Rucksack, den er bei Tante Frieda im Stall versteckt hatte, schnürte seine geliebten Schlittschuhe daran fest und machte sich auf und davon. Er verzichtete auf eine Überfahrt und machte sich stattdessen zu Fuß auf die Reise nach Ostpreußen, in das Land der Ordensburgen.

      »Dat is ja wirklich nee dolle Jeschichte.«

      Erwin Hippels Stammbaum war über Alberts Erzählung hinweg vollends in Vergessenheit geraten. Und auch Friedchen, seine Gattin, schien begeistert und gerührt, während sie unentwegt in ein Taschentuch schnäuzte.

      »Nee, Herr Steinky, wat für ne interessante Jeschichte, nee wirklich.«

      Friedchen schüttelte den Kopf in einem Zustand großen Mitgefühls hin und her, bis sich schließlich Gatte Erwin wieder zu Wort meldete.

      »Wo is er denn hin, der Vadder?«

      »Er ist Richtung Ermland. Als er gänzlich erschöpft war, klopfte er in Heilsberg an eine Klosterpforte. Es waren vermutlich Pallotiner. So genau weiß das heute niemand mehr. Er hat nie viel darüber geredet. Er sagte nur, dass er dort das erste Mal seit Jahren wieder richtig satt