Michael W. Caden

Das Mädchen mit den Schlittschuhen


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Mutter Johanna kümmerte sich um die Kinder. Als da waren: Willi, sein kleinerer Bruder Kurt und seine ältere Schwester Elisabeth. Gemeinsam bewohnten sie in Mattendorf ein kleines Häuschen. Von hieraus war es nicht weit zum Ostpreußenwerk am Elbingfluss, die Schornsteine der Brauerei Englisch-Brunnen konnte man sehen, und auch der schöne Ziesepark lag in der Nähe. Hinterm Haus gab es einen kleinen Obstgarten mit Äpfel-, Birnen- und Kirschbäumen. Hier saß Johanna an milden Tagen oft auf einer Bank und schaute den Kindern beim Spielen zu. An dem großen Kirschbaum hatte Vater Wilhelm eine Schaukel befestigt, das Brett dazu stammte von einem Bierkasten der Brauerei Englisch-Brunnen, das Seil hatte er am Hafen besorgt. Johanna liebte die Schaukel am Kirschbaum, sie mochte es, wenn sie in der noch warmen Abendsonne den kleinen Kurt auf den Armen hielt und der Wind durch ihre rabenschwarzen Haare streifte. Wenn sie schaukelte, fühlte sie sich dem Himmel auf Erden ein Stückchen näher.

      Es war schon spät am Nachmittag, als es Willi vor die Haustüre zog.

      »Mutter, kann ich mal zum Paulchen rüber?«

      »Ja, aber komm nicht zu spät nach Hause. Du weißt, dass dein Vater es nicht mag, wenn du nicht beizeiten am Abendtisch sitzt.«

      »Kein Problem!«, versicherte Willi.

      Er wusste, dass sein Vater sehr ungehalten sein konnte, wenn er mal etwas später kam. Früher – vor dem Krieg – da war er ganz anders zu den Kindern gewesen, hatte ständig mit ihnen rumgealbert, und sie hatten jede Menge Spaß miteinander. Als Mutter ihn zu den anderen Soldaten an den Bahnhof brachte, steckten ihm zwei Frauen eine Blume an. Er nahm sie und gab sie seiner Frau, »damit sie immer an ihn denken möge.« Das war 1914. Als er drei Jahre später verwundet und gezeichnet aus der Gashölle von Ypern zurückkehrte, hatte Johanna als Willkommensgruß einen Blumenkranz um die Eingangstür gewunden. Wilhelm nahm ihn nicht einmal zur Kenntnis. Sein Blick war starr geworden, und manchmal zitterte er am ganzen Körper. Ständig war er gereizt, die kleinste Kleinigkeit konnte ihn aus der Bahn werfen.

      »Vater hat im Krieg Furchtbares erlebt«, sagte Mutter einmal. Darüber geredet hatte er nie. Mit den Jahren wurde sein Zustand etwas besser. Die Arbeit in den Schichauwerken machte ihm jedoch stark zu schaffen. Ganz gesund wurde er nie wieder. Das Giftgas von Ypern steckte tief in seinem Körper und in seiner Seele.

      Nach ein paar Minuten hatte Willi Paulchens Haus erreicht. Er klopfte an die Tür, die sich kurze Zeit später öffnete. Vor ihm stand Paulchens größere Schwester Hanne in Pampuschen und Kittelschürze. Sie war von schlanker Statur, mit blonden Zöpfen und einer riesigen Oberweite, was zu dieser Zeit selbst dem kleinen Willi ins Auge fiel. Schließlich konnte man ihre Brüste einfach nicht übersehen. Hanne, da war er sich sicher, die hatte bestimmt Dutzende von Verehrern.

      »Na Willi, willste zu unserem Paule?«

      Willi nickte.

      »Ja, ist er zu Hause?«

      »Ja, ist er. Sag mal Willi, kann es sein, dass ihr – also du und det Paulchen – in den vergangenen Tagen mal was mitgenommen habt, was mir gehörte und was im Wäschekorb hinterm Haus lag?«

      »Nee, was meinste denn?«

      Willi schluckte.

      »Na, so’ n Stück Wäsche.«

      Willi stellte sich dumm. Er wusste nur zu genau, worauf die Hanne hinaus wollte.

      »Nen Stück Wäsche? Wat denn für ne Wäsche? Strümpfe vellecht?«

      »Ne keijne Strümpfe. So nen Büstenhalter eben.«

      »Eijnen Büstenhalter? Eijnen in echt?«

      Willi bemerkte, wie sich in Hannes Gesicht zu dem ansonsten so blassen Teint ein leichtes Rot gesellte.

      »Aber Hanne, wat sollen Paulchen und ich denn mit nem Büstenhalter? Wir sind doch keijene Marjellchens nuscht. Brauch ich etwa nen Büstenhalter?«, lachte er und schob sich mit beiden Händen den Pullover nach oben.

      Willi wusste, dass Hanne sehr eigen war, was ihre Kleider betraf. Würde sie merken, dass er ihr etwas vorgaukelte? Oder würde er sie tatsächlich mit seinem stümperhaften schauspielerischen Talent täuschen können?

      »Ja, wer wees, wat hier manchmal für Packzeug um de Häuser streicht! Da hatte bestimmt einer einen Furz im Kopf.«

      Paul erschien in der Tür und zwängte sich mit einer Angel unterm Arm und einem Eimer in der Hand an Hanne vorbei.

      »Hallo Paulchen! Wie geht’s?«

      »Gut! Weijste Willi, Hanne sucht immer noch ihren Büstenhalter, so eijnen großen. Irgend eijn Lodschack hat den wohl mit nach Hause genommen. Vellecht hat da jemand eijne Sammlung mit eröffnet.«

      »Wisst ihr, wenn ich den erwische, dem hau ich eins auf den Nischel«, zischte Hanne und meinte: »So, ihr beiden. Ich muss mich noch um de Wäsche kimmern.«

      »Tschüss, Hanne.«

      »Tschüss, Willi.«

      Hanne schloss die Tür. Willi wandte sich Paulchen zu.

      »Gehen wir angeln? Zum Elbing-Fluss?«

      »Ja klar, warum nicht.«

      Für Willi gehörte der Elbing-Fluss zu den bemerkenswertesten Flüssen der Welt. Oft schon hatte er hier gefischt. Für ihn war dieses Gewässer nicht nur das Tor zur Welt, es ernährte ihn zuweilen auch ganz gut mit fangfrischem Fisch – wenn man diese wenige Zentimeter langen Rotaugen denn zur Gattung der Fische zählen wollte, die in den häufigsten Fällen am Haken zappelten. »Mit denen brauchst erst gar nuscht durch die Haustür zu kommen«, hatte seine Mutter gemeint. Also grillte Willi sie zumeist am Fluss oder schenkte ihnen ein zweites Leben, indem er sie wieder zurück ins Wasser beförderte.

      Willi und Paul hatten sich am Ufer ein schattiges Plätzchen gesucht. Aus einer kleinen Streichholzschachtel, die Paul in der Hosentasche trug, fischte er einen Regenwurm heraus und hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe.

      »Schau, den hab’ ich heute morgen im Garten ausgebuddelt.«

      Paul hielt Willi das stattlichste Exemplar vor die Nase.

      »Dass der überhaupt in eine Schachtel passt!«, grinste Willi.

      Nachdem der Köder fachmännisch am Haken befestigt worden war, warf Paul die Angel aus. Am oberen Ende der Rute befestigte er ein kleines Glöckchen. Dann zogen beide ihr Hemden aus und rollten sie als Kopfkissen zusammen. Sie legten sich ins Gras und ließen sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf den Bauch scheinen, als plötzlich ein wuchtiger Ruck durch die Angel ging.

      »Schnell Willi, pack mit zu!«

      Paulchen hatte wohl gemerkt, dass da etwas am Haken zappelte – zunächst nur ganz leicht, dann immer heftiger, je mehr er die Angelschnur einholte. Alleine, das spürte er, würde er diesen kapitalen Burschen nicht einholen können. Das Fischlein schlug todesmutige Haken nach allen vier Himmelsrichtungen. Zu zweit umklammerten sie die Angel, die sich am oberen Ende gefährlich nach unten bog, so als wollte sie mit jedem Augenblick zerbersten. Das Tierchen musste noch sehr an seinem Leben im Wasser hängen, denn es wehrte sich nach Leibeskräften. Die beiden starrten wie gebannt auf die Wasseroberfläche, bis sich dort erste dunkle Konturen abzeichneten.

      »Was ist das? Ist das eine Schlange?«, fragte Willi ungläubig und starrte aufs Wasser.

      Er spürte jetzt jede Muskelsehne in seinen Oberarmen. Das Wassertierchen kämpfte wahrlich tapfer. Doch was würde es ihm nützen? Es hatte sich gänzlich am Haken verbissen.

      Nach ein paar Minuten anstrengendem Drill standen Willi und Paul mehr fragend als freudig vor ihrer Beute. Nun hatten sie also etwas an Land gezogen, aber was zum Teufel war das? Es sah aus wie eine Schlange, war aber keine. Und ein Aal? Ein Aal, soviel stand fest, war das auch nicht.

      »Ich glaube, ich hab so ein Dingslamdei schon einmal gesehen«, gab sich Willi selbstsicher und erzählte Paulchen, dass es sich dabei um ein recht seltenes Exemplar einer bestimmten Gattung handeln könnte, dessen Name er zwar kannte, der ihm aber bedauerlicherweise soeben während des