Michael W. Caden

Das Mädchen mit den Schlittschuhen


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so heftig mit einem anderen Läufer zusammenstieß, dass sie sich schwer verletzte. Nach der Genesung ging sie in ein Kloster und widmete sich bis zu ihrem Tod 1443 der Religiosität. Wegen des Unfalls wurde sie zur Schutzheiligen der Schlittschuhläufer. Nein, ein Schutzheiliger wollte Willi nicht werden. Und er brauchte es auch nicht, denn keiner der Burschen kam ihm lebensbedrohend nahe oder nahm auch nur annähernd Notiz von ihm und seinen ersten Gehversuchen auf dem Eis.

      »Komm, Willi! Schlaf nicht!«

      Mutter Johanna nahm ihn mit einem Ruck an ihre Seite, und sie glitten gemeinsam über das Eis.

      »Siehst du, wie gut das schon klappt!«

      Willi taumelte leicht, konnte seinen Körper aber wieder ausbalancieren. Mit jedem Schritt hielt er sich etwas sicherer auf den Beinen. Ein-, zweimal musste Johanna ihn fest an der Hand nehmen, um einen Sturz zu vermeiden.

      Runde für Runde drehten sie gemeinsam auf dem großen Fluss. Langsam kroch der Nebel den Fluss hinauf. Willi ließ die Hand seiner Mutter los und zog in zwei, drei Schritten in einer kleinen Bahn im Kreis um sie herum.

      »Werde ja nicht übermütig!«, mahnte Johanna ihren Sprössling. Der Stolz einer Mutter über die ersten gelungenen Gehversuche ihres Sohnes auf dem Eis hatte sich in ihre Gesichtszüge geschrieben.

      Eine Frau, circa Mitte 50, mit einem dicken Fuchspelz um den Hals gewunden, beobachtete das Schauspiel von einer Bank aus. Sie spendete verhalten Beifall.

      »Wissen Sie, das sind heute seine ersten Runden auf dem Eis«, rief ihr Johanna hinüber.

      »Dafür klappt’s aber schon ganz gut«, machte die Frau dem Jungen Mut.

      Johanna wollte ihr noch etwas zurufen, doch in diesem Augenblick versagte ihr die Stimme. Was um Himmelswillen war das? Ein stechender Schmerz durchdrang ihre Brust. Sie musste husten. Und es nahm kein Ende. Es zog ihr fast die Beine weg. Der Arzt hatte sie gewarnt. Möglicherweise könnte es sich um den Anfang einer Lungenentzündung handeln, hatte er diagnostiziert. Doch Johanna wollte es nicht wahrhaben. Ach, das wird mich schon nicht umhauen, hatte sie die Befürchtungen des Doktors abgetan.

      »Willi, ich glaub’, wir müssen runter vom Eis. Ich glaube, mir geht es nicht gut. Ich bekomme schlecht Luft. Komm, wir gehen morgen wieder hierher!«

      »Ja, ist gut Mutter.«

      Johanna und Willi verließen das Eis und nahmen eine Zeit lang auf der Bank neben der Frau mit dem Fuchspelz Platz.

      »Ist Ihnen nicht gut, junge Frau?«

      »Ach, es geht schon wieder«, wiegelte Johanna ab. »Ich habe wohl eine hartnäckige Erkältung.«

      Die drei auf der Bank beobachteten, wie die Lichter auf dem Eis erloschen. Sie warteten, bis sich Johanna etwas besser fühlte. Auch der Leierkastenmann hatte seit einigen Minuten sein Spiel beendet. Von der Straße fiel nur noch ein schwacher Laternenschein hinüber. Der Nebel war noch dichter geworden. Zwischen den Brücken kauerte stumm die Nacht. Nur der eisige Wind drehte hier bei Frost und Kälte noch seine einsamen Runden. Die Frau von der Bank begleitete Johanna und Willi bis zur nächsten Straßenbahn, dann verabschiedete sie sich.

      »Ich hoffe, junges Frauchen, dass es Ihnen recht schnell wieder besser geht.«

      Die guten Wünsche der Frau im Fuchspelz sollten sich nicht erfüllen. Den nächsten Morgen sollte Johanna Steinky nicht mehr erleben. Sie starb noch in der Nacht. Auf ihrem Totenschein, den Willi einige Tage später auf dem Küchentisch liegend vorfand, war vermerkt: Todeszeitpunkt: 2.38 Uhr. Alter der Person: 34 Jahre. Geschlecht: weiblich. Name: Johanna Steinky, geborene Karau. Es war der zweite Advent 1921. Und dort stand ein Wort, das Willi noch nie zuvor gehört hatte und das er fortan sein Leben lang nicht mehr vergessen würde: Tuberkulose.

       Die Adventsmütterchen

      Den Tod seiner Mutter und die anschließende Beerdigung erlebte Willi wie in einem bösen Traum. Mutter Johanna lag aufgebahrt im Wohnzimmer. Überall leuchteten Kerzen und erhellten den dunklen Raum. Sie trug ein weißes Kleid, und man hatte ihr einen geflochtenen Blumenkranz um den Kopf gelegt. Wie schön sie ist, dachte Willi. Immer noch! Auch im Tod! Es kamen viele Verwandte, Bekannte und Nachbarn, die ihr Beileid kundtaten. Willi wusste am Abend nicht mehr, wie viele Hände er geschüttelt hatte. Es war ihm auch egal. Als sie den Sarg ins Grab ließen, wollte er nichts mehr wissen von dieser Welt oder von den Fürbitten des Pfarrers. Der Tod, er war ihm unheimlich. Er hatte ihn zuvor noch nicht gekannt, und er hatte ihm das Liebste genommen, das er besaß auf dieser Welt: seine Mutter. Seine Anwesenheit, er konnte sie nicht ertragen. Willi starrte unentwegt auf das Kreuz, das der Pastor ihm in die Hand gedrückt hatte. Wäre der Tod eine Person aus Fleisch und Blut, in diesen Minuten hätte er ihn mit dem Kruzifix erschlagen wie einen räudigen, tollwütigen Hund.

      Beim Beerdigungskaffee im Gasthaus »Zum Schützenhof« saß die Trauergemeinde lange zusammen und tratschte. Sie lobten Johanna in höchsten Tönen. Welches zarte Wesen sie besessen habe, dass sie immer bester Laune war und wie gut sie zu den Kindern gewesen sei. Selbst diejenigen, die zu Lebzeiten kein gutes Haar an ihr gelassen hatten, wie die Witwe Kaminski, fanden nur Gutes an der Verstorbenen. Als Willi wieder nach Hause kam, zog er sich zurück in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und dachte an seine Mutter. Als es dunkel geworden war, stand er auf und ging zum Fenster. Er öffnete es und blickte in den Abendhimmel. Es war kalt draußen und eine sternenklare Nacht. Ob Mutter nun da oben ist?, dachte er. Ob sie dort auf mich wartet? Oder gibt es vielleicht überhaupt keinen Himmel? Willi stiegen die Tränen in die Augen. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, so dass er nicht bemerkte, wie sich zwei Gestalten dem Fenster näherten.

      »Na Krabutzke, biste am Träumen?«

      Willi erschrak.

      »Keine Angst, wir tun keinem nuscht.«

      Willi hatte die zwei Frauen nicht kommen gesehen. Es waren Adventsmütterchen, Frauen aus den umliegenden Altenheimen und Hospitälern, die noch bis zum Heiligabend durch die Straßen Elbings von Haus zu Haus zogen und milde Gaben sammelten. Diese Sitte stammte aus dem Mittelalter, als die Frauen in Laken eingehüllt für die Kranken Gaben sammelten.

      Willi kannte die Mütterchen noch aus dem vergangenen Jahr. Da hatte Mutter ihnen zehn Pfennige gegeben, und er hatte seine Wünsche zu Weihnachten aufgesagt. »Wenn du fest daran glaubst«, hatte ihm Johanna gesagt, »dann werden sich deine Wünsche auch erfüllen.«

      Die beiden Adventmütterchen trugen lange dicke wollene Röcke, offenbar mehrere übereinander. Darüber waren große helle, buntgestreifte Schürzen gebunden. Über ihre Schultern hatten sie ein schneeweißes großes Laken gelegt. Die Köpfe zierte jeweils ein großer, breitrandiger Hut, wie er im Sommer von den Landarbeitern auf dem Feld getragen wurde. Darüber befand sich ein unter dem Kinn zusammengebundenes Kopftuch.

      »Möchtest du uns denn nicht deine Wünsche sagen?«, fragte die eine. Sie hielt einen aus Weiden gebundenen Deckelkorb im Arm. Darin, das konnte Willi erkennen, befanden sich Kuchen, Äpfel, Mehl und Pflaumenmus.

      »Ich habe für Weihnachten keinen Wunsch!«

      »Keinen Wunsch zum Weihnachtsfest? Das gibt es doch gar nicht! Alle Kinder haben doch Wünsche zu Weihnachten!«

      Willi überlegte kurz.

      »Ach, wenn ich mir etwas wünschte, dann wünschte ich, dass meine Mutter wieder zu uns zurückkäme.«

      Eines der Adventsmütterchen mit einer mittelgroßen Knollennase schaute ihn fragend an.

      »Wo ist sie denn, deine Mutter? Hat sie dich alleine gelassen?«

      »Die ist im Himmel, falls es ihn denn wirklich gibt.«

      »Du vermisst sie sicher sehr, deine Mutter?«

      »Ja!«

      »Ach, das tut mir ja so leid. Aber wenn sie im Himmel ist, dann kann sie nicht wiederkommen, Jungchen. Nicht für alle Dittchen und milden Gaben dieser Welt. Aber wenn du eines Tages, nach einem langen, langen Leben, in den Himmel kommst, dann, glaub mir, wird sie da