Michael W. Caden

Das Mädchen mit den Schlittschuhen


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das offene Grab zuzuschaufeln.

      »Schnell, da hinein«, fauchte Paulchen.

      Was? Willi stutzte, und er zuckte mit dem ganzen Körper. Hatte er wirklich richtig gehört. Hinein!? Wo hinein, um Himmelswillen? Etwa in das Grab? Er sollte wirklich in dieses Loch hinein springen?

      »Willst du wirklich, dass wir ins Grab hüpfen?«

      Es gab keinerlei Zweifel. Paulchen hatte ihnen dieses Grab als Stätte der Zuflucht ausgesucht. Er wollte sich dort keineswegs zur ewigen Ruhe betten, aber eine Zeit lang, so hatte er es sich erhofft, würde man dort vor diesen blutrünstigen Kolonisten vielleicht sicher sein.

      »Und wenn die uns dann zuschaufeln, Paule? Oder wenn das alles zusammenstürzt?«

      Paulchen wusste was Willis »Paule« bedeutete. Wenn er ihn so nannte, war er misstrauisch oder zumindest von Skepsis geplagt.

      »Komm Willi, schabber nuscht. Rein da!«

      Mit einem Sprung war Paulchen in das Grab gehechtet. Er schlug hart mit den Knien zwischen den vielen Kränzen auf dem Sargdeckel auf und zog ein schmerzverzerrtes Gesicht. Auch Willi hatte sein ganzes Herz in die Hand genommen und war hinterher gesprungen. Er landete vergleichsweise weich auf den Trauerkränzen.

      »Schnell, das Grünzeugs drüber«, trieb Paulchen ihn zur Eile an.

      Die beiden hatten sich gerade unter den Kränzen vergraben, als sie ein Wirrwarr von Stimmen und Schritten vernahmen, das schnell näher kam.

      »Das sind sie – die Kolonisten!«

      »Ruhig«, flüsterte Paulchen.

      Willi spürte, wie sein Herz lauter schlug. Er roch das Tannengrün, das ihn auch nicht wirklich beruhigte. Jetzt nur keine unbedachte Bewegung, nur kein auffälliges Räuspern, dachte er bei sich und lauschte, wie sich zwei Kolonisten, vermutlich handelte es sich um die beiden Anführer, aufgebracht unterhielten.

      »Die können doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein!«

      »Vielleicht hat der Geist vom ollen Scharfrichter Macketanz sie ja geholt!«, meinte der andere und lachte hämisch.

      »Vielleicht haben sie sich hinter einem Grabstein versteckt!«

      »Willst du hier wirklich jeden Grabstein nach denen absuchen?«

      Ein dritter mischte sich ein – einer der jüngeren Kolonisten.

      »Ich muss gleich zu Hause sein. Es wird schon dunkel!«

      »Ach, deine Uhr geht doch nach Buttermilch«, knotterte einer der Anführer.

      »Geht sie nuscht. Es ist schon nach 20 Uhr«, jammerte der Jüngere.

      »Kick doch dem, ich hab doch direkt gesagt, wir lassen den Kleenen zu Hause«, meldete sich ein Vierter leicht verärgert zu Wort.

      »Ich muss auch bald zu Hause sein. Wenn ich später komme, dann setzt es was.«

      Auch ein weiterer Verfolger hatte erhebliche Bedenken, dass er die Prügel, die er hier eigentlich verteilen wollte, gleich selbst von seinem Vater einstecken würde.

      Für einen Moment wurde es merklich ruhig in der Oberwelt.

      »Also gut, gehen wir«, lenkte einer der Anführer ein.

      Willi und Paulchen lauschten, wie die Horde sich entfernte. Als sie sich sicher sein konnten, dass die Schweinebande wirklich den Rückzug angetreten hatte, wollten sie sich gerade von den Kränzen befreien und die grausige Stätte verlassen, als sie erneut Geräusche wahrnahmen.

      Willi erschrak.

      »Sind das wieder die Kolonisten? Sie kommen zurück! Oder?«

      »Glaub ich nuscht«, flüsterte Paulchen. Diese Stimmen klangen älter, und sie näherten sich mit lautem Gebraasch.

      Was Willi und Paulchen nicht sehen konnten: Zwei dunkle Gestalten hatten gerade der Gastlichkeit der »Alten Welt« den Rücken zugekehrt, das Friedhofsgelände betreten und es schien so, als steuerten sie direkt auf das Grab zu. Dass sie dabei nicht immer den kürzesten Weg einhalten konnten, lag wohl daran, dass sie zuvor von der Wirtin aufs Beste versorgt worden waren.

      »Das sind nicht die Kolonisten. Das sind zwei, die haben sich einen gebrannt, Paul. Die haben den Kanal voll.«

      »Psst! Sei still, Willi!«, flüsterte Paulchen.

      »Du Behnke, der Bärenfang in der »Alten Welt« war auch schon mal besser.«

      »Weeste, Komputzki, ich gönn mir eh lieber een gepflegtes Bierchen. Wer Schnaps trinkt, der steckt ooch Häuser an.«

      »Ach was, ick hab men Lewen lang noch keen Haus anjesteckt.«

      Willi erschrak. Was war das, was er dort gehört hatte? War das nicht der Klang von Metall, den er gerade wahrgenommen hatte? Ein Klang, so als ob Metall gegen einen Stein geschlagen worden war? Das Geräusch beunruhigte ihn. Natürlich war es Metall! Und gehörte zu dem Metall möglicherweise auch noch ein Stiel? Und ergab beides zusammen nicht eine Schaufel? Und wer machte sich am späten Nachmittag noch mit einer Schaufel auf dem Friedhof zu schaffen? Die Antwort lag für Willi auf der Hand: Die Totengräber!!!

      Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter bei der Vorstellung, er könne gleich in diesem Loch bei lebendigem Leib begraben werden. Die Totengräber hatten offenbar im Gasthaus ein kleines Päuschen eingelegt, um nach reichlich Zuführung von Hochprozentigem die Arbeit an dem Grab fortzusetzen.

      »Raus hier, Paulchen! Nix wie raus hier!«

      In Panik schleuderten Willi und Paulchen die Kränze von sich und versuchten sich am Rand der Grube hochzuziehen, was jedoch daran scheiterte, dass die sandige Erde nachgab. Immer wieder versuchten sie am Rande des Grabes hochzuklettern. Doch stets rutschte die Erde nach. Immer mehr Sand füllte das Grab. Schließlich gelang es Paulchen, sich an einem Balken, der quer über das Grab gelegt worden war, hochzuhangeln. Mit einer Hand griff er nach Willi und zog ihn aus dem dunklen Loch.

      Beide streiften sich noch kurz die Erde von den Hosen ab und dann taten sie das, was sie eine halbe Stunde zuvor auch schon getan hatten: sie rannten.

      »Deiwel noch eins! Was ist das denn?«

      »Was denn, Komputzki?«

      »Da ist jemand …, da ist jemand aus dem Grab rausgekommen? Und nuscht nur einer. Ich glaub’, es waren sogar zweije!«

      Komputzki stand dort wie zu einer Salzsäule erstarrt, geradeso als sei der Leibhaftige mit einem weiteren Höllenwesen der Unterwelt entstiegen.

      »Ach halt den Jabbel, Komputzki. Ich glaub’, du hast dir zu viel vom Bärenfang off de Lampe gegossen.«

      »Wenn ich es dir doch saag, da sind zwee aus dem Grabe heraus!«, beteuerte Komputzki, dem ohne Pause die Knie schlotterten.

      Behnke wurde ungehalten.

      »Ach Unfug. Los Komputzki, fang an und schaufele. Sonst sind wa morjen früh noch nuscht fertig.«

      Als Willi und Paulchen längst schon hinter der Kirche verschwunden waren und den Nachhauseweg angetreten hatten, unterhielten sich die Totengräber noch lange bei ihrer Arbeit. Als das Werk getan war, war sich Komputzki sicher, dass diese geisterhafte Erscheinung – genauso wie Behnke es meinte – nur durch den Bärenfang ausgelöst worden sein konnte.

      »Glaub mir, Komputzki, der Bärenfang, der is nuscht Gutes nuscht. Du solltest künftig vielleicht besser beim Reinen Wort Gottes weilen«, womit Behnke den Kornschnaps meinte.

      Komputzki besann sich tatsächlich eines Besseren. Fortan ging er durch die Welt und pries das Reine Wort Gottes bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den höchsten Tönen und dankte es ihm auf mannigfaltige Weise. Erscheinungen soll er seitdem auch keine mehr gehabt haben …

       Das Dingslamdei

      Wann Willi erstmals das Meer sah, daran konnte er sich beim besten Willen nicht