Schmackhaftigkeit besessen habe.
Willi überlegte kurz. Dann schaute er Paulchen an und stutzte.
»Schau mal die vielen Augen, die es hat. Meinst du, das ist vielleicht so ein Nässie?«
»Ein Nässie!?«
»Ja! So eijene Sorte eben, die so heijßt, weil sie in eijnem dunklen und furchtbar nassen Wasserloch im Schottenland haust!«, gab sich Willi besserwisserisch.
»Glaub ich nuscht«, wehrte Paulchen ab. »Wat soll denn da hausen?«
»Ja so ‘nen Ungeheuer. Vellecht ist dat hier auch so ‘nen Ungeheuer – halt eben nur etwas kleijner?«
Die beiden debattierten noch eine ganze Weile lautstark. Doch Nässie hin, Nässie her – Paulchen wäre nicht Paulchen, hätte er nicht einen Rat gewusst.
»Wejste Willi, wenn man etwas nuscht kennt, dann muss man einen kennen, der es kennt.«
»Ach ja. Und wen bitte kennst du, der was kennt, was wir nicht kennen?«, fragte Willi neunmalklug.
»Na Raschke, den Schleusenwärter, der weiß bestimmt, was es mit dieser Kreatur auf sich hat. Der lebt schon seit vielen Jahren hier am Fluss und hat schon so manches seltene Wassergetier zu Gesicht bekommen.«
Die Schleuse war eine richtige Falle für die Fische, die den Fluss hinauf und hinab zogen. Da gab es Plötze und Barsche, Aale und Schleie, Bleie und Hechte. An einem Wehr sammelten sie sich an manchen Tagen zu Tausenden. Die Fische bescherten Raschke nicht nur eine stets willkommene Mahlzeit, sondern auch eine satte Nebeneinkunft, die in manchen Monaten größer gewesen sein dürfte, als sein Lohn als Schleusenwärter. Saß er nicht bei seiner Schleuse, war er auf dem Fischmarkt in Elbing unterwegs. Hinter der Schleuse betrieb er noch einen kleinen Räucherschuppen, aus dem ständig stinkender Qualm zog. Hier räucherte er die Aale. Das Feuer nährte er mit Tannenzapfen. »Wegen dat janz besondere Auroma«, wie Raschke stets prahlte.
Also gingen Willi und Paulchen mit Nässie, oder was immer sich auch in dem Eimer befand, zum Haus des Schleusenwärters. Willi klopfte an die Tür, während Paul den Eimer mit der Beute fest mit beiden Händen umklammerte. Die Tür öffnete sich und heraus trat ein kleines hageres Männlein mit einer Schifffahrtsmütze auf dem Kopf und einem Giezkocher im Mundwinkel, der nur noch im Entferntesten Ähnlichkeit mit einer Tabakspfeife hatte.
Raschke fehlte am rechten Arm die Hand. Als Schreinergeselle hatte er sie bei einem Unfall an einer Maschine verloren. Aber er war deshalb kein Griesgram. Trotz seiner Behinderung konnte er ohne Probleme die Schleuse öffnen. An einem großen Kreuzhebel, der aus dem Boden ragte, stemmte er sich mit seinem ganzen hageren Körper gegen die Flügel aus Eisen. Ein Teil der Brücke, die über den Fluss führte, bewegte sich schließlich seitwärts und gab nach kurzer Zeit die Durchfahrt frei.
Raschke lebte alleine und zurückgezogen. Schon vor Jahren war seine Frau verstorben. Kinder hatte sie ihm keine geboren. Sein Haus zierte ein guter Giebel, worüber die Leute zuweilen ihre Späße machten, wollte heißen, seine Nase war etwas größer als die seiner Mitmenschen. Aber das spielte für Willi und Paulchen in diesem Moment keine Rolle.
»Na, ihr Lachodder , wat habt ihr zweje den da inne Ejmer?« Lachodder, das war einer, der zu nichts taugte. Als Schimpfname, der mit einem Augenzwinkern verbunden war, musste man sich den Namen in Elbing gefallen lassen. Und so kümmerte es Willi und Paulchen wenig, wenn Raschke sie auf diese Weise begrüßte.
»Dat wissen wir auch nuscht so genau, Herr Raschke. Wir dachten, dass Sie sich das Tierchen mal etwas genauer anschauen könnten. Vellecht wissen Sie ja, zu welcher Gattung es gehören könnt.«
Raschke kratzte sich am Kopf.
»Gattung! Na gut, dann kommt man ruhig rein, ihr Banausen.«
Die Burschen betraten das Schleusenwärterhäuschen.
Der Schleusenwärter nahm das Tierchen aus dem Eimer. Er hielt es in die Höhe, während es wie wild hin und her zappelte, und betrachtete es von allen Seiten. Immer wieder drehte und wendete er es.
»Hmmh …?« brummelte er dabei in seinen langen zotteligen Bart. »Hmmh …?«
Dann wendete er das Wassertierchen ein weiteres Mal, diesmal in die andere Richtung.
»Also … Es könnte … Hmmh, ja also… Ja ihr Lachodder, also so genau kann ich euch das auch nicht sagen, das mit der Gattung. Wisst ihr, so ein seltenes Tierchen, das muss man sich allemal in aller Ruhe betrachten. Ich denke, um es genauer bestimmen zu können, misd ich es erst mal ein Weilchen in meijne fürsorgliche Obhut nehmen. Am besten, ihr lasst das Tierchen mal hier, dann kann ich es mir in aller Ruhe beäugen, wenn ich etwas mehr Zeit habe.«
Willi und Paule ließen den Schleusenwärter also aus Forschungsgründen alleine mit dem unbekannten Flussbewohner. Noch Tage später erzählten sie sich von diesem schlangenartigen Ungeheuer. Was aus dem Tierchen wurde, Willi und Paul hatten es nie erfahren. Raschke meinte einmal nur beiläufig, als Willi ihn in Elbing auf dem Fischmarkt traf, dass es sich bei diesem Dingslamdei wohl um eine Lamprete gehandelt haben müsste und …, dass es geräuchert ähnlich vorzüglich delikat schmecke wie ein Aal!
Das Geburtstagsgeschenk
»Es hat geschneet, Mutter! Es hat geschneet!«
Der Anblick der weißen Pracht hatte Willi in helle Verzückung geraten lassen. Über Nacht war plötzlich die Temperatur gefallen, und der Frost hatte ein dünnes pulvriges Kleid über Elbing gelegt. Man schrieb den 15. Oktober des Jahres 1922, und eigentlich war es noch viel zu früh für einen Wintereinbruch. Willi blickte auf seinen 12. Geburtstag, und draußen lag Schnee. War das nicht ein Zeichen des Himmels? Nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht, als ein Paar Schlittschuhe, mit denen er auf der zugefrorenen Hommel oder dem Elbing-Fluss im Winter seine Runden drehen konnte. Willi hatte die Schlittschuhe vergangenes Jahr in der Vorweihnachtszeit in den großen Schaufensterauslagen eines Kaufhauses entdeckt.
»Na, Willichen, haste Geburtstag heut?«
Mutter Johanna tat so, als habe sie mit dem Geburtsdatum ihres Sohnes gewisse Zweifel.
Willi nickte. Was für eine Frage? Er befand sich sozusagen in einem Zustand freudiger Erwartung und seine Mutter machte Scherze. Mutter Johanna hatte mit Elisabeth bereits am Frühstückstisch Platz genommen. Der kleine Kurt schlief nebenan. In der Mitte des Tisches stand eine prächtige Schokoladentorte, darauf waren zwölf kleine Kerzen eingesteckt.
»Ich wünsche dir alles Gute zu deinem 12. Geburtstag, mein Schatz.«
Johanna presste Willi fest an sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Stirn.
»Ich wünsche dir auch alles Gute«, gratulierte Elisabeth, seine ältere Schwester. Vater Wilhelm würde sich den guten Wünschen am Abend anschließen. Er war schon in aller Frühe zur Arbeit aus dem Haus gegangen.
»Du weißt ja, wenn du die Kerzen nicht mit einem Male ausbläst, dann bringt das Unglück«, frotzelte Elisabeth.
»Ach sei still, Elisabeth«, mahnte Mutter Johanna. »Erzähl dem Jungen doch nicht so ein dummes Zeug.«
Es war Tradition im Hause Steinky, dass das Geburtstagskind am Morgen die Kerzen ausblasen musste. Dann durfte es sich ein großes Stück von der Torte nehmen und alle schauten zu, wie es die süße Portion in einem Gefühl von Glückseligkeit verspachtelte. Der Rest der Torte wurde weggestellt, und am Nachmittag machte sich dann die ganze Geburtsgesellschaft genüsslich darüber her. Warum das so war, das wusste keiner. Es war halt schon immer so.
Willi visierte die Kerzen auf dem Kuchen an und holte kräftig Luft, so als wolle er den ganzen Tisch umpusten. Er blies und blies, und als er fertig war, da war das eingetreten, was nicht geschehen sollte: Eine Kerze war nicht erloschen. Sie leuchtete trotzend in hellem Licht, so als wollte sie die ganze Küche ausleuchten.
Willi blickte ängstlich zu seiner Mutter.
»Wird jetzt was Schlimmes passieren?«
»Ach