Reinhard Habeck

Mysteriöse Museumsschätze


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das Löwenfell? Könnte es als Schnitzwerk zwischen den Beinen stilisiert herunterhängen und den Eindruck eines männlichen Gemächts vermitteln? Hinzu kommt, dass immer noch viele Stellen an der Statuette fehlen. Das gilt besonders für Flächenbereiche des Ober- und Unterkörpers. Anderseits, wenn weiblich, muss man zugestehen, dass der Körper nicht den bekannten üppigen Frauenfiguren der Altsteinzeit entspricht. Also doch ein echter Kerl? Oder womöglich ein Mischwesen, nicht nur im Sinne von Tier-Mensch, sondern auch Weibchen-Männchen?

      Die tollkühnste These postulierte der umstrittene österreichische Esoteriker und Philosoph Rudolf Steiner (1861 – 1925). Vom eiszeitlichen Kunstwerk in Gestalt eines Löwenmenschen konnte er nichts gewusst haben. Die Eiszeitplastik war zu seiner Zeit noch nicht entdeckt. In der von Steiner begründeten Anthroposophie werden spirituelle Weltanschauungen, christliche Mystik, religiöse Gnosis, fernöstliche Lehren und naturwissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielt hierbei die „Akasha-Chronik“. Nach theosophischer Ideologie ist es das geistige Weltgedächtnis mit den feinstofflichen Aufzeichnungen aller Ereignisse aus fernster Vergangenheit. Spirituell begabte „Geistesforscher“ sollen imstande sein, dieses „gespeicherte“ weltumspannende Wissen abzurufen. 1913 beschrieb Steiner diese Fähigkeit als einen „nach rückwärts gerichteten hellseherischen Blick“. Daraus leitet sich die absonderliche theosophische Überzeugung ab, dass die Erde in Urzeiten von androgynen Wesen bevölkert war, die jeweils das weibliche und männliche Geschlecht in sich vereinten. Dazu zählten auch die Löwenmenschen. Mit dem Sündenfall, so wird behauptet, sei es dann zur Geschlechtertrennung gekommen. Aus den weiblichen Löwenmenschen, mit einer Art entgegengesetztem männlichen Astralkörper oder Ätherleib, sei das Frauengeschlecht hervorgegangen. Aus Stiermenschen im Stil von Minotaurus entsprang die Männerwelt.

      Berühmte Sagengestaltder Antike: die Chimäre von Arezzo, eine Kreatur aus Löwe, Ziege und Schlange. Etruskische Bronzeskulpturim Archäologischen Museum von Florenz. Mischwesen sind im Zeitalter genmanipulierter und künstlich geschaffener Lebewesen keine Utopie mehr. War die Zukunft bereits gestern?

      Ein Erdball mit Mutanten? Groteske Mischwesen – halb Mensch, halb Tier – sind populäre Motive aus der Antike, der lebendigen Mythologie bei Naturvölkern, der Geisterwelt des Schamanismus, der bunten Fabelwelt, der fantasievollen Kunstgeschichte und dem Fantasy- und Science-Fiction-Genre der Gegenwart. Auch in der Realität ferner Zukunft? Wissen wir, sollte der Homo sapiens kein Auslaufmodell sein, wohin uns die Evolution und biomedizinischer Forschergeist noch führen werden?

      Eine Meldung, die man für eine Fake News halten könnte, sorgte im Jänner 2017 für internationales Aufsehen: Forscher des „Salk Institute for Biological Studies“ in Kalifornien erschufen ein Mischwesen zwischen Mensch und Schwein. Die Ergebnisse wurden im medizinischen Fachblatt „Cell“ dokumentiert. Demnach war es den Wissenschaftlern gelungen, einen Schweineembryo mit menschlichen Zellen über vier Wochen am Leben zu erhalten. Sie wollten mit den Gentests herausfinden, ob in Tieren mit Menschenzellen menschliche Organe heranwachsen können. Bereits in den 1980er-Jahren gab es umstrittene Versuche, bei denen menschliche Gene in Mäuse eingepflanzt wurden. Biotechniker hoffen, auf diese Weise einmal Ersatzorgane für kranke Menschen „züchten“ zu können. Kritiker befürchten hingegen, dass ein Mischwesen allzu menschlich werden könnte und die Experimente außer Kontrolle geraten.

      Technisch ist es heute möglich, selbst Teile des menschlichen Gehirns in Tiere zu übertragen. Die Ethik verbietet solche Experimente. Aber wird sich auch ein skrupelloser „Dr. Frankenstein“ im militärischen Geheimlabor ewig daran halten? Die Geschichte lehrt, dass der geistreiche Homo sapiens früher oder später versuchen wird, alles Denkbare in der Praxis auszuprobieren, ungeachtet jeder moralischer Bedenken. Dazu gehört auch die Erschaffung neuer Lebensformen, die es in der Natur nicht gibt. Nur ein fiktiver Brüller, oder könnte eine mythologische Chimäre wie der Löwenmensch eines Tages sogar zur leibhaftigen Wirklichkeit werden?

      Verzierung, Schmuck oder Urzeit-Code?

      Einige Details am Löwenmenschen überraschen: Das linke Ohr weist ein Dutzend quer verlaufende Ritzungen auf. Deutlicher noch sichtbar beim linken Oberarm: Er ist mit sieben parallelen Kerben versehen, die reliefartig wirken. Eine symbolhafte Tätowierung? Möglich wäre es. Wir finden allerdings ähnliche Bearbeitungs- und Ritzspuren auf nahezu allen plastischen Kunstwerken der Eiszeit. Es ist nicht anzunehmen, dass Mammuts oder Wollnashörner mit Tattoos oder Brandzeichen im Ache- und Lonetal herumliefen. Manchmal sind es ganze Strichbündel, ergänzt um V- und X-Zeichen, sowie Reihen kleiner, runder Vertiefungen. Wenn sie auf Knochen verewigt sind, werden die Linien zuweilen als Schnitte erklärt, die durch Feuersteinklingen beim Abziehen des Tierfells entstanden sind. Die meisten Werkzeugspuren sind jedoch gezielt gesetzte Markierungen.

      Viele Archäologen deuten sie lediglich als Ornamente, die der Verschönerung des Kunstwerks gedient haben sollen. Nicht wirklich überzeugend. Was spricht gegen die Annahme, dass die Regelmäßigkeit der Zeichen bestimmte Ereignisse, kalendarische Daten und andere fixierte Informationen symbolisieren? Entwickelte sich in der Schwäbischen Alb der Vorläufer der Schrift? Verbergen die vielfältigen Kerben, Linien, Kreuze, Symbole und Punkte einen altsteinzeitlichen Kommunikations-Code, von dem wir Superintelligenzler des 21. Jahrhunderts keine Ahnung mehr haben?

      Die Frage stellt sich ebenso bei bemalten Knochenfragmenten und Geröllsteinen mit Linien und geometrischen Mustern. Sie wurden in mehreren Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden. Einige wenige Stücke werden ins Zeitalter des Löwenmenschen datiert, der überwiegende Teil stammt aus der letzten Epoche der Altsteinzeit, die vor etwa 12.000 Jahren mit dem Ende der Kaltperiode ausklang. Besonders zahlreich wurden derartige „Bildsteine“ in der französischen Höhle Mas d’Azil im Département Ariège gefunden. Auf rund 1400 flachen, ovalen Kieselsteinen, etwa 10 Zentimeter groß, befinden sich aufgemalte Zeichen, die teilweise an Buchstaben des späteren phönizischen, griechischen und lateinischen Alphabets erinnern. Sie sollen bis zu 14.000 Jahre alt sein. Ähnliche „Symbolsteine“ wurden in einer Grotte bei Rochedane in Ostfrankreich entdeckt und in der Höhle von Birseck bei Basel, die allerdings Spuren gewaltsamer Zerstörung aufweisen.

       Weshalb weisen die meisten plastischen Eiszeitkunstwerke geometrische Ritzspuren auf?

       In vielen Höhlen der Eiszeit, auch in der Schwäbischen Alb, wurden bemalte Kieselsteine gefunden. Ihre Bedeutung ist unklar.

       Filigrane Kleinode aus Mammutelfenbein. Was war ihr Zweck?

      Joachim Hahn, jener emsige Urzeitdetektiv, der den „Löwenmenschen“ im Ulmer Museumsdepot wiederentdeckte und erstmals rekonstruierte, deutet die Bemalungen unverblümt als „symbolische Zeichen, ähnlich einer Gedächtnisstütze, die gewisse Botschaften übermittelte“. Bereits 1973 brachte der Paläontologe das Dilemma bei der Beurteilung dieser bemalten Muster auf den Punkt. In seinem Standardwerk „Eiszeithöhlen im Lonetal“ bedauert er: „Da uns aber der Schlüssel, der Code zu diesem möglichen Vorläufer der Schrift fehlt, können wir weder die Botschaft dieser abstrakten noch der figürlichen Zeichen lesen.“

      Steckt vielleicht auch hinter den jüngsten Entdeckungen der Schwäbischen Alb kein Kult, sondern verlorenes Wissen? Gemeint sind einzigartige „Schmuckstücke“ aus Mammutelfenbein, die die Anfänge der Eiszeitkunst noch einmal weiter zurück in dunkle Vergangenheit rücken. Sie wurden in großer Zahl in mehreren Höhlen der „Löwenmensch-Region“ entdeckt und sind 42.000 Jahre alt! Für die Eiszeitforschung sind sie so bedeutend, dass sie als „Fund des Jahres 2017“ im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren einen Ehrenplatz erhalten haben. „Es ist der bislang älteste Nachweis für die komplexe Herstellung von Elfenbeinperlen weltweit“, erklärt dazu der Archäologe