Der Prähistoriker Nicholas J. Conard machte in den Höhlen der Schwäbischen Alb spektakuläre Entdeckungen, die den Ursprung der Eiszeitkunst weiter zurück in die Vergangenheit datieren.
Die geschnitzten Kleinode, meist nicht größer als ein Zentimeter, weisen eine Machart auf, die bisher nur aus der Schwäbischen Alb des Aurignacien-Zeitalters bekannt ist. Sie zeigen eine verblüffende Formenvielfalt und sind fast alle doppelt und dreifach gelocht. Prähistoriker vermuten, dass es Knöpfe, Abzeichen oder Wappen der damals im Ache- und Lonetal lebenden Menschen waren. Über den langen Zeitraum von 6000 Jahren ist dieser spezielle „Modestil“ nachweisbar. Dienten die Wertsachen nur als Zierrat? Oder könnten sie ebenso gut bereits fixierte Sprachinformationen enthalten haben?
Der Alpenschamane
Welche Bedeutung ist dem Löwenmenschen beizumessen? War er ein sakrales Kultobjekt? Das Abbild einer Gottheit oder ein angehimmeltes Fabelwesen? Ein heiliger Gegenstand? Gab es eine reale Person, die für das Mischwesen einst Pate stand? Ein Stammesoberhaupt oder ein Schamane in seiner Kluft, verkleidet mit Tierhäuten? Welcher kreative Impuls förderte vor mehr als 40.000 Jahren den genialen Schaffensdrang? Drängende Fragen, die vorerst unbeantwortet bleiben. Vielleicht für immer. Eines aber ist gewiss: Der Löwenmensch muss innerhalb seiner Gruppe eine besondere Verehrung genossen haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass der unbekannte Künstler für die Herstellung seines Glanzstücks enorm viel Mühe, Zeit und Know-how investierte?
Die Lage der Figur im Mammut-Stoßzahn
Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurde festgestellt, dass der Löwenmensch aus einem rechten Stoßzahn eines ausgewachsenen Mammuts geschnitzt, geschabt, geraspelt und geschliffen wurde. Der Eiszeit-Michelangelo wählte dafür den härtesten Zahnbereich aus. Mehr noch: Die Krümmung des Stoßzahnes wurde bei der Fabrikation mitberücksichtigt und bei der aufrechten Haltung ausgeglichen. Der Könner hat nicht einfach auf gut Glück zu schnitzen begonnen. Er muss sein Werk vorher geplant und genau durchdacht haben. Zufall oder nicht: Der Nervenkanal des Zahns verläuft vom Schritt exakt durch die Mitte der Figur und tritt am Kopf wieder aus. Nach altindischen Sanskrit- und Yogalehren verlaufen im Körper genau dort die Energiezentren der sieben Hauptchakren.
Die Fundstelle des Löwenmenschen liefert weitere Indizien für seine überragende Stellung. Man entdeckte die Statuette in einer Nische im hinteren Bereich der Stadel-Höhle. Archäologen nennen sie seither „Kammer des Löwenmenschen“. In diesem Areal fanden sich besonders viele Schmuckgegenstände, darunter durchbohrte Fuchszähne und Elfenbeinanhänger. Sind es „Grabbeigaben“ für eine zeremonielle Bestattung des Kunstwerks? War die ganze Höhle ein Kultzentrum für totemistische Rituale? Ein geheimer Ort der Unterwelt, in den sich nur Eingeweihte vorwagten, um mit Verstorbenen, Tiergeistern und höheren Wesen in Kontakt zu treten?
Darstellungen anthropomorpher Mischwesen, die tierische und menschliche Merkmale in sich vereinen, deuten Prähistoriker als frühe Ausdrucksform für Jagdzauber und Schamanismus. Vereinzelte bildliche Wiedergaben finden sich vor allem in französischen Höhlen. Dazu zählt eine 75 cm große Malerei an der Höhlendecke von Les Trois Frères (Département Ariège). Das Mischwesen wird der „Zauberer“ oder der „gehörnte Gott“ genannt. Ein anderes Beispiel ist eine 37 cm hohe Gravur in Le Gabillou (Département Dordogne), die einen tanzenden „Bisonmenschen“ zeigt. Allerdings sind diese Höhlengemälde erst Jahrtausende nach der Löwenmensch-Statuette entstanden.
Der „gehörnte Gott“ in Les Trois Frères und der „Bisonmensch“ in Le Gabillou
Der würdevolle Löwenmensch genießt in der Geschichte der Kunst eine Sonderstellung. Wenn es stimmt, dass die Statuette eine der ersten Schamanendarstellungen im Alpenraum ist, stellt sich eine Frage: Welche Rolle spielt dabei das Sinnbild des Löwen?
Soweit bekannt, wanderten die Großkatzen vor etwa 900.000 Jahren aus Asien kommend in Europa ein. Sogar in Tirol waren sie beheimatet, wie Funde aus der Tischofer Höhle bei Kufstein belegen. Eines der wenigen erhaltenen vollständigen Skelette eines Höhlenlöwen ist im Naturhistorischen Museum in Wien zu sehen. Vor rund 10.000 Jahren verschwanden die Höhlenlöwen wieder aus unseren Breiten. Über den Grund sind sich die Gelehrten – ähnlich wie bei der Frage zum Aussterben des Neandertalers – noch uneins.
Vollständiges Skelett eines Höhlenlöwen im Naturhistorischen Museum Wien
Wandgemälde von lebensgroßen Höhlenlöwen in der Cauvet-Grotte (Replik im Ulmer Museum)
Geblieben ist die Faszination des Löwen. Sie zieht sich durch die ganze Geschichte des Homo sapiens und ist immer mit Macht und Königswürde verbunden. In Afrika ist der Löwe noch heute das Symbol der Häuptlingswürde. Die Magie und Stärke der Großkatze blieb auch den Eiszeitkünstlern nicht verborgen. Das bezeugen wiederum viele Höhlengemälde, die mit einer unglaublichen Perfektion an die Wand gepinselt wurden. Die prachtvollsten Meisterwerke besitzt die Grotte Chauvet in der südfranzösischen Region Auvergne-Rhône-Alpes. Mit mehr als 30.000 Jahren gelten sie als die ältesten Wandgemälde aus der Aurignacien-Ära. Das Unfassbare: Die farbenprächtigen Bildwunder haben eine dreidimensionale Wirkung, die im Spiel von Licht und Schatten die Illusion beweglicher Bilder erzeugt! Kunstexperten staunen über die angewendete Maltechnik: perspektivische Wiedergaben, naturgetreue Bewegungsabläufe, eine unglaubliche Vielfalt an komplizierten Studien, plastische Formen, niveauvolle Schattierungen mit klarem Bildaufbau. So etwas hatte man den Menschen der Eiszeit niemals zugetraut. Auf Hunderten Wandbildern sind ganze Tierherden, darunter viele Löwen, verblüffend dynamisch und lebensecht verewigt worden, so als würden sie jeden Moment aus dem Felsgestein springen.
Altersmäßig und geografisch näher im Kontext zum Löwenmenschen stehen figürliche Kunstwerke und Kopfminiaturen in Menschen- und Löwengestalt, die in den Höhlen Vogelherd und Hohle Fels gefunden wurden. Das interessanteste Relikt wurde 1979 in der Geißenklösterle-Höhle, einem Ortsteil von Blaubeuren, ausgegraben: ein geschnitztes 3,8 cm hohes und 1,4 cm breites Mammutelfenbeinplättchen. Mit dem datierten Alter von 35.000 bis 40.000 Jahren liegt es im Zeithorizont der Löwenmensch-Statuette und anderen Kleinplastiken der Schwäbischen Alb.
Die Vorderseite zeigt das Halbrelief eines menschenähnlichen Wesens, mutmaßlich ein „Adorant“, mit zum Himmel erhobenen Armen und gespreizten, unterschiedlich langen Beinen, die eine Bewegung andeuten. Der linke Arm hat – analog zur Löwenmensch-Figur – die gleichen waagrechten Linienmuster eingeritzt. War es das Amulett des Löwenmensch-Schamanen?
Auf den Längs- und Querseiten und auf der Rückseite sind geometrische Kerbreihen mit 86 punktartigen Vertiefungen zu sehen, deren Bedeutung die Archäologen vor ein Rätsel stellt. Der Astronom Dr. Michael A. Rappenglück, freier Forscher mit eigenem „Institut für interdisziplinäre Studien“ in Gilching bei München, glaubt, das Geheimnis der ungewöhnlichen Darstellung zu kennen. Er verglich die Proportionen der Menschenfigur mit der Konstellation des Sternbildes Orion im Zeitalter Aurignacien und stellte verblüffende Übereinstimmungen fest. Die Punkte auf der Rückseite der Tafel könnten gemäß dieser astro-archäologischen These eine Kalenderfunktion gehabt haben. Oder sie dienten als Mess- beziehungsweise Orientierungshilfe beim Anpeilen der Sterne. Sollte sich dieser Verdacht erhärten, wäre das außergewöhnliche Elfenbeinstück nicht nur eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit, sondern gleichzeitig die älteste Sternenkarte der Welt! Von Schamanen wird behauptet, sie könnten in veränderten Bewusstseinszuständen zu jenseitigen Geisterwelten reisen. Auch zu den Göttern im Kosmos?
Darstellung auf der Elfenbeinplatte