von der Seite an und June wandte sich gebieterisch um. »Gehen Sie,« sagte sie, »und bringen Sie das Wasser gleich!«
Ihr Ballkleid lag noch auf dem Sofa, und in wilder Hast kleidete sie sich sorgfältig an, nahm die Blumen in die Hand und ging hinunter, das kleine Gesichtchen hocherhoben unter der Last ihres Haares. Im Vorbeigehen konnte sie den alten Jolyon in seinem Zimmer hören.
Bestürzt und ärgerlich kleidete er sich an. Es war nach zehn, vor elf konnten sie nicht dort sein; das Mädchen war toll. Aber er wagte nicht ihr zu widersprechen – denn der Ausdruck ihres Gesichts bei Tisch verfolgte ihn.
Mit großen Ebenholzbürsten glättete er sein Haar, bis es unter dem Licht wie Silber glänzte; dann kam er ebenfalls auf die dunkle Treppe hinaus.
June erwartete ihn unten, und ohne ein Wort gingen sie an den Wagen.
Als sie nach der Fahrt, die eine Ewigkeit zu währen schien, den Saal betraten, verbarg sie all ihre quälende Unruhe und Erregung unter einer Maske von Entschlossenheit. Das Gefühl der Schande über ›das Nachlaufen‹, wie es genannt werden könnte, wurde durch die Furcht gemildert, ihn vielleicht nicht hier zu finden, ihn trotz allem vielleicht doch nicht zu sehen, und ebenso durch den eigensinnigen Entschluß ihn – sie wußte noch nicht wie – zurückzugewinnen.
Der Anblick des Ballsaals mit seinem glänzenden Fußboden erweckte ein Gefühl der Lust und des Triumphs in ihr, denn sie liebte den Tanz, und schwebte, wenn sie tanzte, so leicht, wie ein behender, wirbeliger kleiner Geist dahin. Er würde sie sicherlich zum Tanzen auffordern, und wenn er mit ihr tanzte, würde alles sein wie eh. Sie schaute sich eifrig um.
Allein der Anblick Bosinneys mit diesem seltsamen Ausdruck äußerster Vertieftheit in seinem Gesicht, als er mit Irene aus dem Wintergarten kam, traf sie zu plötzlich. Sie hatten nichts gesehen – und niemand, nicht einmal ihr Großvater sollte – ihren Kummer sehen.
Sie legte die Hand auf des alten Jolyon Arm und sagte leise:
»Ich muß nach Haus, Großväterchen, mir ist nicht wohl.«
Er eilte mit ihr fort, und brummte für sich selbst, daß er gewußt, wie es kommen werde.
Ihr sagte er nichts; erst als sie wieder im Wagen saßen, der durch einen glücklichen Zufall in der Nähe der Tür geblieben war, fragte er sie: »Was fehlt dir, Liebling!«
Als er ihren ganzen zarten Körper von Schluchzen geschüttelt sah, war er furchtbar erschrocken. Sie müsse Blank morgen rufen lassen, darauf würde er bestehen. Er könne sie nicht so sehen ...
June unterdrückte ihr Schluchzen, drückte fieberhaft seine Hand und lehnte sich, das Gesicht in ihren Schal gehüllt, in ihre Ecke.
Er konnte nur ihre Augen sehen, die unverwandt ins Dunkel starrten, aber er hörte nicht auf, ihre Hand mit seinen dünnen Fingern zu streicheln.
Neuntes Kapitel
Der Abend in Richmond
Auch andere als Junes und Soames' Augen hatten ›jene Beiden‹ (wie Euphemia sie bereits zu nennen begann) aus dem Wintergarten kommen sehen, und andere Augen hatten auch den Ausdruck in Bosinneys Gesicht bemerkt.
Es gibt Momente wo die Natur eine Leidenschaft offenbart, die sich sonst unter der sorglosen Ruhe ihrer gewöhnlichen Stimmungen verbirgt – ein plötzlicher Frühling, der weiß auf Mandelblüten durch die purpurnen Wolken blitzt; ein schneeiger mondheller Gipfel mit einem einzigen Stern droben im sehnsüchtigen Blau; oder gegen die Flammen des Abendrots ein alter Eichenbaum, der als finsterer Hüter eines feurigen Geheimnisses dasteht.
Es gibt auch Momente, wo in einer Bilder-Galerie ein Werk, das als ›*** Titian – besonders bemerkenswert‹ bezeichnet ist, den Widerstand eines Forsyte durchbricht, der vielleicht besser gefrühstückt hat als seine Mitmenschen, und ihn in einer Art von Ekstase gefangen hält. Hier sind Dinge, fühlt er – Dinge die – die eben Dinge sind. Etwas Unüberlegtes, Unvernünftiges überkommt ihn; wenn er versucht, es mit der Gründlichkeit des praktischen Mannes zu erklären, entgleitet, entschlüpft es ihm, wie die Glut des Weines, den er getrunken, sich verliert, und ihn verstimmt zurückläßt und daran mahnt, daß er eine Leber hat. Er fühlt, daß er extravagant gewesen, daß er etwas verschwendet hat; sein gesunder Verstand hat ihn verlassen. Er wünschte nichts von dem zu sehen, was die drei Sternchen dieses Katalogs verhießen. Gott bewahre ihn davor, etwas von den Kräften der Natur zu wissen! Gott bewahre ihn davor, einen Augenblick zuzugeben, daß so etwas existiert! Gab er das einmal zu, wohin führte es dann? Man bezahlte einen Schilling für den Eintritt und einen zweiten für den Katalog.
Der Blick den June gesehen und den andere Forsytes gesehen, war wie das plötzliche Aufblitzen einer Kerze durch das Loch eines imaginären Vorhangs, hinter dem sie sich bewegte – schattenhaft und lockend, wie das plötzliche Aufflammen eines vagen irrenden Scheines. Es gab den Zuschauern die Gewißheit, daß drohende Mächte an der Arbeit waren. Für einen Augenblick gewährte es ihnen Vergnügen und Interesse, dann aber hatten sie das Gefühl, es gar nicht bemerken zu dürfen.
Es erklärte jedoch die Ursache von Junes spätem Kommen und Verschwinden ohne zu tanzen, ohne selbst ihren Bräutigam begrüßt zu haben. Sie sei krank, hieß es, und das war kein Wunder.
Aber schuldbewußt blickten sie einander an. Sie wollten keinen Skandal verbreiten, wollten nicht boshaft sein. Wer wollte das wohl? Und es wurde Außenstehenden gegenüber kein Wort davon verraten, ein ungeschriebenes Gesetz unter ihnen hieß sie schweigen.
Dann kam die Nachricht, daß June mit dem Großvater an die See gegangen war.
Er hatte sie nach Broadstairs gebracht, das jetzt in Aufnahme kam, nachdem Yarmouth, trotz Nicholas, an Ansehen verloren hatte, und kein Forsyte ging ohne die Überzeugung an die See, für sein Geld eine Luft zu erhalten, die seine Galle in einer Woche krank machen mußte. Die verhängnisvolle Neigung des ersten Forsyte Madeira zu trinken, hatte seine Nachkommen offenbar anfällig gemacht.
Also June ging an die See. Die Familie wartete Entwicklungen ab; sonst war nichts weiter zu tun.
Aber wie weit – wie weit waren ›jene Beiden‹ gegangen? Wie weit würden sie noch gehen? Ging wirklich überhaupt etwas vor? Es konnte sicherlich nichts daraus werden, denn sie hatten beide kein Geld. Höchstens ein Flirt, der wie all solche Beziehungen zu rechter Zeit ein Ende nahm.
Soames' Schwester, Winifred Dartie, die mit der Luft von Mayfair, wo sie wohnte, modernere Grundsätze in Bezug auf eheliches Verhalten eingesogen hatte, als, zum Beispiel, in Ladbroke Grove üblich waren, lachte bei der Idee, daß etwas daran sein sollte. Das ›kleine Ding‹ – Irene war größer als sie selbst, und es war ein wesentliches Zeugnis für den soliden Wert einer Forsyte, immer so ein ›kleines Ding‹ zu sein – das kleine Ding langweilte sich. Warum sollte sie sich nicht amüsieren? Soames war ziemlich langweilig, und was Mr. Bosinney anbetraf – nur dieser Hanswurst George hatte ihn den ›Bukanier‹ nennen können – sie blieb dabei, daß er sehr ›chic‹ war.
Dieser Ausspruch – daß Mr. Bosinney ›chic‹ war – verursachte förmlich Aufsehen, doch er wirkte nicht überzeugend. Daß er ›einigermaßen gut aussah‹, waren sie bereit zuzugeben, aber daß man einen Mann mit so ausgesprochen vorstehenden Backenknochen, den merkwürdigen Augen und weichen Filzhüten ›chic‹ nennen konnte, war nur ein weiteres Beispiel für Winifreds extravagante Art allem Neuen nachzulaufen.
Es war in jenem denkwürdigen Sommer, wo Extravaganz an der Tagesordnung war, wo selbst die Erde extravagant war, wo die Kastanien mit Blüten übersäet, die Blumen von Duft getränkt waren, wie nie zuvor; wo Rosen in jedem Garten blühten und die Nächte kaum Raum genug für das Gewimmel der Sterne hatten; wo jeden Tag von früh bis spät die Sonne in voller Rüstung ihren ehernen Schild über dem Parke schwang, und die Menschen so sonderbare Dinge taten, wie ihr Frühstück und Mittag im Freien einzunehmen. Unerhört war die Zahl der Droschken und Wagen, die über die Brücken des schimmernden