Thomas Gächter

Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung


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Alter, mangelnde schulische Ausbildung, sprachliche Probleme, sozio-kulturelle Faktoren, reines Suchtgeschehen, Aggravation usw.) die Erwerbsmöglichkeiten, so dürfen diese bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit (und damit der Invalidität) nicht berücksichtigt werden. In jedem Einzelfall ist eine klare Ausscheidung dieser Faktoren vorzunehmen.»[124]

      «Bei der Berechnung des Invaliditätsgrades wird auf das Kriterium ‹ausgeglichene Arbeitsmarktlage› zurückgegriffen, um den strukturellen (und nicht den konjunkturellen) Veränderungen des Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen, beispielsweise der Produktivitätssteigerung oder dem Rentabilitäts- und Kostendruck. Diese Faktoren könnten die Integration der versicherten Person in das Unternehmen erschweren oder gar verunmöglichen und haben deshalb auch einen Einfluss auf den Leistungsanspruch der versicherten Person.»

      Zwischenfazit

      ZweckDer Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes dient dem gesetzlichen Zweck, konjunkturelle Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt zu bereinigen und auf Durchschnittsverhältnisse abzustellen. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist Ausfluss der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und verdeutlicht, dass das Nichtfinden einer Arbeitsstelle (Erwerbslosigkeit) in der Invalidenversicherung nicht versichert ist. Problematisch ist es nach hier vertretener Auffassung, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt mit einem fiktiven Arbeitsmarkt gleichzusetzen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht. Denn damit wird die gesetzliche Methode der individuell-konkreten Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG und Art. 28a IVG unterlaufen und durch eine theoretische und abstrakte Betrachtung ersetzt: Von den persönlichen Verhältnissen der versicherten Personen lässt sich aber in der Invalidenversicherung nicht absehen, ohne dass die Zumutbarkeit zur Zumutung wird.

      FiktionAuffallend ist, dass Verwaltungspraxis und Rechtsprechung auf der Achse zwischen Realität (tatsächlicher Arbeitsmarkt) und Fiktion (abstrakter Arbeitsmarkt) über die Jahrzehnte deutlich in Richtung Fiktion gerückt sind. Das Bundesgericht führt heute wie selbstverständlich aus, die Invaliditätsbemessung der IV beruhe «auf verschiedenen Fiktionen – insbesondere einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage» (BGE 141 V 343). Gerade konjunkturelle Krisenzeiten (1970-er Jahre, 1990-er Jahre) gaben Anlass für eine zunehmend abstrakte Betrachtungsweise, die vom tatsächlichen Arbeitsmarkt vermehrt absah. Ausgeblendet wurden nicht nur konjunkturelle Schwankungen, sondern auch die Arbeitsmarktverhältnisse als solche. Dieses Wegdefinieren des Arbeitsmarktes hebelt die Zumutbarkeit aus und führt letztlich zu einer fiktiven Erwerbsfähigkeit.

      Abb. 2: Ausgeglichener Arbeitsmarkt

      Quelle: eigene Darstellung

      VermittelbarkeitDas Abstellen auf eine fiktive Erwerbsfähigkeit hat zur Folge, dass sich die fehlende oder erschwerte Eingliederungsfähigkeit und Vermittelbarkeit von behinderten Personen auf dem realen Arbeitsmarkt einseitig zulasten der behinderten Personen auswirken. Für die betroffenen Personen bedeutet dies im Ergebnis weniger «Eingliederung vor Rente» als vielmehr «weder Eingliederung noch Rente». Eine Alternative dazu wäre, die Inklusion behinderter Personen in die Arbeitswelt wirksam zu fördern – und damit letztlich auch die Invalidenversicherung finanziell zu entlasten. Wenn sich etwa der ausgeglichene Arbeitsmarkt für an- und ungelernte behinderte Personen zunehmend verschliesst, so kann ihnen nach dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente» die Rente nur dann verweigert werden, wenn ihnen zuvor der Arbeitsmarktzugang wieder geöffnet worden ist. Ein zunehmend verschlossener Arbeitsmarkt sollte also eher Anlass sein, die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen, als die Versicherten aus dem Recht zu stellen.

      1 Nadai/Canonica/Koch, S. 36.

      2 Prinz, S. 91.

      3 Prinz, S. 91.

      4 Prinz, S. 85.

      5 Vgl. das Votum von Expertenseite in Protokoll der SGK-N vom 14. August 1995, S. 5, und Art. 7 Abs. 1 ATSG.

      6 Prinz, S. 85 f. (Hervorhebung beigefügt).

      7 Hugo Siefart, Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete