Alter, mangelnde schulische Ausbildung, sprachliche Probleme, sozio-kulturelle Faktoren, reines Suchtgeschehen, Aggravation usw.) die Erwerbsmöglichkeiten, so dürfen diese bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit (und damit der Invalidität) nicht berücksichtigt werden. In jedem Einzelfall ist eine klare Ausscheidung dieser Faktoren vorzunehmen.»[124]
«Die Erwerbsmöglichkeiten versicherter Personen werden durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Nach Artikel 7 ATSG ist ausschliesslich die durch gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachte Erwerbsunfähigkeit zu berücksichtigen. Eine Invalidität ist demnach nicht gegeben, wenn die Erwerbsunfähigkeit nicht durch einen Gesundheitsschaden, sondern durch andere Faktoren (sog. invaliditätsfremde Gründe wie z.B. Alter, mangelnde Ausbildung, Verständigungsschwierigkeiten, reines Suchtgeschehen, soziokulturelle Umstände, Aggravation, etc.) verursacht wurde. Die Rechtsprechung hat die Bestimmung von Artikel 7 ATSG vielfältig konkretisiert und dadurch zu einer Abgrenzung der invaliditätsbedingten Erwerbsunfähigkeiten von anderen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit beigetragen (vgl. BGE 127 V 294, 107 V 21 Erw. 2c; ZAK 1989, S. 313, AHI 1999, S. 238 Erw. 1 mit Hinweisen)».[125]
Urteil LeonardelliDer Bundesrat verwies dabei auf eine Rechtsprechung, die anknüpfend an den Entscheid Leonardelli eine durchaus differenzierte Betrachtung sog. «invaliditätsfremder» Faktoren vornahm: Im Urteil des EVG vom 28. Juli 1999 (= AHI 1999, S. 237 ff.) hielt das EVG fest, dass invaliditätsfremde Gründe wie Lebensalter, Dienstalter, mangelnde Ausbildung und Verständigungsschwierigkeiten bei der Beurteilung der einer versicherten Person noch zumutbaren Arbeit zu berücksichtigen sind. Wird jedoch gestützt auf alle Umstände eine Arbeit als zumutbar erachtet, sind diese Faktoren – weil invaliditätsfremd – bei der Invaliditätsbemessung ausser Acht zu lassen. Eine solche Herangehensweise entspricht der Unterscheidung von Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit. Weiter entspricht sie Art. 16 ATSG, der durch die 5. IV-Revision nicht geändert wurde. Die Rechtsprechung hat denn auch eine gesetzliche Verschärfung des Invaliditätsbegriffs durch die 5. IV-Revision zu Recht verneint.[126]
StrukturwandelDer Bundesrat hat in einer Stellungnahme zu einem parlamentarischen Vorstoss noch im Jahr 2013 und damit nach Inkrafttreten der 5. IV-Revision (2008) zum ausgeglichenen Arbeitsmarkt Folgendes festgehalten:[127]
«Bei der Berechnung des Invaliditätsgrades wird auf das Kriterium ‹ausgeglichene Arbeitsmarktlage› zurückgegriffen, um den strukturellen (und nicht den konjunkturellen) Veränderungen des Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen, beispielsweise der Produktivitätssteigerung oder dem Rentabilitäts- und Kostendruck. Diese Faktoren könnten die Integration der versicherten Person in das Unternehmen erschweren oder gar verunmöglichen und haben deshalb auch einen Einfluss auf den Leistungsanspruch der versicherten Person.»
VerhältnismässigkeitJüngst hat der Gesetzgeber die IV-Stellen ausdrücklich darauf verpflichtet, «die sprachlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der Versicherten» im Rahmen der Versicherungsleistungen zu berücksichtigen,[128] und die Rechtsprechung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in die Beurteilung der Zumutbarkeit zwingend auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen einfliessen.[129]
Zwischenfazit
ZweckDer Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes dient dem gesetzlichen Zweck, konjunkturelle Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt zu bereinigen und auf Durchschnittsverhältnisse abzustellen. Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist Ausfluss der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und verdeutlicht, dass das Nichtfinden einer Arbeitsstelle (Erwerbslosigkeit) in der Invalidenversicherung nicht versichert ist. Problematisch ist es nach hier vertretener Auffassung, den ausgeglichenen Arbeitsmarkt mit einem fiktiven Arbeitsmarkt gleichzusetzen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht. Denn damit wird die gesetzliche Methode der individuell-konkreten Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG und Art. 28a IVG unterlaufen und durch eine theoretische und abstrakte Betrachtung ersetzt: Von den persönlichen Verhältnissen der versicherten Personen lässt sich aber in der Invalidenversicherung nicht absehen, ohne dass die Zumutbarkeit zur Zumutung wird.
FiktionAuffallend ist, dass Verwaltungspraxis und Rechtsprechung auf der Achse zwischen Realität (tatsächlicher Arbeitsmarkt) und Fiktion (abstrakter Arbeitsmarkt) über die Jahrzehnte deutlich in Richtung Fiktion gerückt sind. Das Bundesgericht führt heute wie selbstverständlich aus, die Invaliditätsbemessung der IV beruhe «auf verschiedenen Fiktionen – insbesondere einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage» (BGE 141 V 343). Gerade konjunkturelle Krisenzeiten (1970-er Jahre, 1990-er Jahre) gaben Anlass für eine zunehmend abstrakte Betrachtungsweise, die vom tatsächlichen Arbeitsmarkt vermehrt absah. Ausgeblendet wurden nicht nur konjunkturelle Schwankungen, sondern auch die Arbeitsmarktverhältnisse als solche. Dieses Wegdefinieren des Arbeitsmarktes hebelt die Zumutbarkeit aus und führt letztlich zu einer fiktiven Erwerbsfähigkeit.
Abb. 2: Ausgeglichener Arbeitsmarkt
Quelle: eigene Darstellung
RealitätsbezugWeiter fällt aus historischer Sicht auf, dass der bereits bei Einführung der Invalidenversicherung zentrale Grundsatz der «Eingliederung vor Rente» auch daran scheiterte, dass keine Arbeitsplatzgarantien für Behinderte oder Arbeitsplatzquoten für grössere Unternehmen vorlagen. Sie schienen bei Schaffung der Invalidenversicherung in den 1950-er Jahre überflüssig. Da in der Invalidenversicherung der Invaliditätsgrad anhand der eingetretenen (Teil-)Erwerbsunfähigkeit bestimmt wird, bezieht sich Invalidität auf den «Marktpreis» bzw. auf den monetären «Wertzerfall» der gesundheitlich beeinträchtigten Person auf dem Arbeitsmarkt.[130] Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wirken daher auf die Erwerbsfähigkeit zurück – und beeinflussen das Ausmass der Invalidität.[131] Je erfolgreicher die Arbeitsmarktintegration gelingt, desto tiefer fallen die Invaliditätsgrade aus. Diese Verknüpfung von Invalidität und Arbeitsmarktlage ist durch den Ausschluss konjunktureller Schwankungen zwar begrenzt, aber nicht aufgehoben – es sei denn, man greife zu einer fiktiven Erwerbsfähigkeit und damit zum «Wegdefinieren des Arbeitsmarktes».
VermittelbarkeitDas Abstellen auf eine fiktive Erwerbsfähigkeit hat zur Folge, dass sich die fehlende oder erschwerte Eingliederungsfähigkeit und Vermittelbarkeit von behinderten Personen auf dem realen Arbeitsmarkt einseitig zulasten der behinderten Personen auswirken. Für die betroffenen Personen bedeutet dies im Ergebnis weniger «Eingliederung vor Rente» als vielmehr «weder Eingliederung noch Rente». Eine Alternative dazu wäre, die Inklusion behinderter Personen in die Arbeitswelt wirksam zu fördern – und damit letztlich auch die Invalidenversicherung finanziell zu entlasten. Wenn sich etwa der ausgeglichene Arbeitsmarkt für an- und ungelernte behinderte Personen zunehmend verschliesst, so kann ihnen nach dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente» die Rente nur dann verweigert werden, wenn ihnen zuvor der Arbeitsmarktzugang wieder geöffnet worden ist. Ein zunehmend verschlossener Arbeitsmarkt sollte also eher Anlass sein, die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen, als die Versicherten aus dem Recht zu stellen.
1 Nadai/Canonica/Koch, S. 36. ↵
2 Prinz, S. 91. ↵
3 Prinz, S. 91. ↵
4 Prinz, S. 85. ↵
5 Vgl. das Votum von Expertenseite in Protokoll der SGK-N vom 14. August 1995, S. 5, und Art. 7 Abs. 1 ATSG. ↵
6 Prinz, S. 85 f. (Hervorhebung beigefügt). ↵
7 Hugo Siefart, Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit auf dem Gebiete