die Zuständigkeit zwischen einzelnen Sozialversicherungen, also zwischen der Invalidenversicherung und der Arbeitslosenversicherung. Der Hinweis sei in der Definition der Bestimmung des Invaliditätsgrades am Platz, nicht aber in Bereichen, wo es um kurzfristige Geldleistungen gehe.[101]
KommissionDie nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit prüfte diesen Vorschlag, folgte letztlich aber dem ursprünglichen Entwurf des Ständerates. In der Subkommission ATSG wurde die Bedeutung der «Ausgeglichenheit» des Arbeitsmarktes einlässlich erörtert.[102] Von Expertenseite wurde dargelegt, dass sich der Begriff des Arbeitsmarktes durch zwei Kriterien auszeichne: Der Arbeitsmarkt müsse für den Versicherten in Betracht kommen und ausgeglichen sein. Während das erste Kriterium in der Person des Versicherten angelegt sei, setze die Ausgeglichenheit ein gewisses Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage (keine Vollbeschäftigung, aber auch keine Arbeitslosigkeit) voraus. Der konjunkturell bedingte Arbeitsausfall werde durch die Arbeitslosenversicherung abgedeckt. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit sei nicht von der aktuellen Arbeitsmarktlage abhängig.
ObjektivierungIm Bericht der nationalrätlichen Kommission wird weiter ausgeführt, dass der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten über das Kriterium des ausgeglichenen Arbeitsmarktes «objektiviert» und «nicht von den Zufälligkeiten der Arbeitsmarktschwankungen abhängig» wird.[103] Es wäre stossend, wenn die Erwerbsunfähigkeit je nach Arbeitsmarktsituation unterschiedlich hoch angesetzt würde. Wer in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise auszuüben, aber keine Arbeit finde, sei nicht erwerbsunfähig, sondern arbeitslos. Das Arbeitsmarktrisiko sei nicht über die Invaliden- bzw. Unfallversicherung gedeckt. Die Definition des Ständerates entspreche der Gerichtspraxis. Eine Streichung des ausgeglichenen Arbeitsmarktes, wie es der Bundesrat beantragt hatte, würde den falschen Eindruck erwecken, dass bei der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit auf den real existierenden Arbeitsmarkt abzustellen sei. Dies sei nicht der Fall, weil Art. 22 E-ATSG (= Art. 16 ATSG), der den Grad der Arbeitsunfähigkeit bestimme, wieder am ausgeglichenen Arbeitsmarkt anknüpfe. In Grenzfällen sei es weitgehend eine Ermessensfrage, zwischen Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit zu unterscheiden. Dies sei indes kein Grund, das bisher geltende und bewährte Abgrenzungsprinzip aufzugeben. Die Formulierung des Ständerates diene der Klarheit.[104]
Verzicht auf DefinitionAuf eine gesetzliche Definition des ausgeglichenen Arbeitsmarkts wurde auch im ATSG verzichtet. Das EVG führte seine bisherige Rechtsprechung unter der Geltung des ATSG fort und hielt dazu fest: «(…) auch an den einzelnen Bemessungskriterien (Validen- und Invalideneinkommen, Berücksichtigung einer zumutbaren Tätigkeit sowie des ausgeglichenen Arbeitsmarktes etc.) ändert sich unter der Herrschaft des ATSG nichts»[105].
Neue Herausforderungen
MissbrauchsproblematikAb Mitte der 1990-er Jahre stieg die Zahl der IV-Rentenbeziehenden erneut stark an,[106] namentlich bei den psychischen Erkrankungen.[107] Anders als die Krisendiskussion in den 1970-er Jahren löste diejenige der 1990-er Jahre intensive gesetzgeberische Aktivitäten in der Invalidenversicherung aus und war in dieser Hinsicht politisch folgenreicher, wobei aus historischer Sicht eine «Medikalisierung der Krisendiskussion» auffällt.[108] Es entzündete sich erneut eine Missbrauchsdebatte, wobei vor allem Rentenbeziehende mit psychischen Problemen im Fokus standen.[109] Verwaltungs- und Gerichtspraxis gingen dazu über, die (problematischen) Abstrahierungen bei der Invaliditätsbemessung erwerbstätiger Versicherter in die gesundheitliche Komponente «vorzuverlagern».[110] Die Ausschälung psychosozialer und soziokultureller Faktoren[111] wie die inzwischen überwundene Überwindbarkeitspraxis[112] sind Ausdruck einer Verwaltungs- und Gerichtspraxis, die Defiziten in der (medizinischen) Abklärung und einer befürchteten Inflation «sozialer Leiden» entgegenwirken wollte. Vergleiche der Daten der 1990-er Jahre ergaben, dass in Jahren mit niedrigem wirtschaftlichem Wachstum die Ausgaben der Invalidenversicherung markant anstiegen.[113] Auswertungen konnten aber keinen institutionalisierten, routinemässigen Übertritt von Erwerbslosen zur Invalidenversicherung feststellen.[114]
Strengere PraxisDie strengere Beurteilung von Rentengesuchen durch die kantonalen IV-Stellen seit der Jahrtausendwende sowie eine restriktivere Gerichtspraxis in Bezug auf die Zusprache von IV-Renten wurden schliesslich im Rahmen einer grossangelegten Studie durch das BSV im Jahr 2007 bestätigt.[115] Bei knapp der Hälfte der Fälle war das Invalideneinkommen streitig, dessen Bemessung in direktem Zusammenhang mit dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt steht. Bei den untersuchten Urteilen ging es unter dem Titel des Invalideneinkommens viel stärker um dessen technische Ermittlung als um die Frage der Zumutbarkeit. Gemäss den Studienautoren entstand «aufgrund der Befunde zu den Gesundheitsschäden und zur Zumutbarkeit der Eindruck, dass das Gericht eine explizite Diskussion über die Zumutbarkeit bis zu einem gewissen Grad vermeidet»[116].
NischenarbeitsplätzeDie höchstrichterliche Rechtsprechung zum «ausgeglichenen Arbeitsmarkt» blieb insofern konstant, als immer wieder auf BGE 110 V 273 verwiesen wurde.[117] Anders als zu den Anfangszeiten der IV ging die Gerichtspraxis in einer Vielzahl von Fällen gar nicht mehr vertieft auf die gesamten persönlichen Verhältnisse[118] der Versicherten ein, sondern verwies pauschal auf die Möglichkeit von Überwachungs- und Kontrollarbeiten als körperlich leichte Tätigkeiten.[119] Als Beispiele solcher körperlich leichter Tätigkeiten nennt die Rechtsprechung auch heute noch Concierge, Parkplatzwächter, Museumswärter oder Lagerist.[120] Solche Nischenarbeitsplätze sind aber bedingt durch den Strukturwandel im Schwinden begriffen. Dieser Strukturwandel wirkt sich nach den verfügbaren Studien besonders negativ auf die Beschäftigungschancen niedrig qualifizierter Arbeitnehmender aus,[121] denn der schweizerische Arbeitsmarkt hat sich über die Jahrzehnte tiefgreifend verändert: Während die Zahl der Erwerbstätigen im Industriesektor abnahm, gewann der Dienstleistungssektor zunehmend an Gewicht. Im Jahr 2003 arbeiteten bereits knapp 72 % der Erwerbstätigen in der Schweiz in diesem Sektor. Viele Arbeitsplätze gingen deshalb verloren. Die Anforderungen an die erwerbstätige Bevölkerung haben sich durch diese Verschiebung der Arbeitsplätze in den Dienstleistungssektor und durch den technischen Fortschritt im Industriesektor verändert. Betroffen sind – wie erwähnt – vor allem gering qualifizierte Erwerbstätige.[122]
Kaufmännischer BereichAber auch die Struktur der Arbeitsplätze im kaufmännischen Bereich hat sich erheblich verändert, wo – wie das EVG bereits im Jahr 2003 festhielt – «die Tendenz in Richtung Sachbearbeitung geht, die Beschränkung eines bestimmten Arbeitsplatzes auf reine Schreib- und Kommunikationsfunktionen zunehmend schwieriger wird und auch Arbeitsplätze mit einem einfachen Aufgabenbereich vielfältig ausgestaltet sind (…) Wenn es schon für Gesunde schwierig ist, eine sich auf einfach Büroarbeit beschränkende Stelle zu finden, so muss bei einem bestimmten, im Einzelfall zu würdigenden Mass an gesundheitlich bedingten Einschränkungen bei der Ausübung einer schon seltenen Tätigkeit davon ausgegangen werden, dass das Leistungsvermögen auch bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage nicht mehr Gegenstand von Angebot und Nachfrage bildet und die Restarbeitsfähigkeit in der betroffenen Tätigkeit nicht mehr wirtschaftlich verwertbar ist».[123] Der Bundesrat äusserte sich ähnlich (dazu unten Rz. 67).
5. IV-Revision
ÜberwindbarkeitMit der 5. IV-Revision wurde Art. 7 ATSG wie folgt ergänzt: «Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist».
Invaliditätsfremde FaktorenDazu führte der Bundesrat Folgendes aus:
«Der Ausschluss invaliditätsfremder Faktoren bei der Beurteilung des Vorliegens einer Invalidität wird nun ausdrücklich im Gesetz verankert. Eine relevante Erwerbsunfähigkeit liegt somit nur in dem Ausmass vor, in dem der Verlust der Erwerbsmöglichkeiten einer versicherten Person auf dem in Betracht fallenden ausgeglichenen